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Nord Stream 2: Gefracktes Gas und ideologische Armenspeisung

Oh, welch ein Malheur, ich hab meine Unschuld nicht mehr! Mit den Zeilen eines Gassenhauers aus der großen Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts könnten die politischen Ereignisse unserer Tage ebenfalls bestens karikiert werden. Die jüngste, „fürsorgliche“ Maßnahme des „Verbündeten“ USA gegen das Projekt Nord Stream 2 ist so ein Anlass, der die klaffende Wunde zwischen knallharter Machtpolitik und ideologischer Verpackung auf den hell erleuchteten Seziertisch der Analyse legt. In Anbetracht dessen, was die USA als Ziel verfolgen, gleicht das  alte Narrativ vom Bündnispartner einer ideologischen Armenspeisung.

Um die Faktenlage kurz zu erläutern: Das Projekt Nord Stream 2, durch das russisches Erdgas durch Pipelines in der Ostsee an Deutschland geliefert werden soll, ist technisch kurz vor dem erfolgreichen Abschluss. Russland, respektive die Sowjetunion hat selbst in den sehr angespannten Lagen des Kalten Krieges Energielieferungen nie als Druckmittel genutzt. Die Trennung von Geschäft und ideologisch-politischer Befindlichkeit war immer gewährleistet. Die US-Regierung unterstellt nun gerade dieses und sieht die Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Zudem litte die Ukraine unter der Realisierung des Projektes, da die Transiteinnahmen für Energielieferungen durch die Ukraine entfielen.

Eine Bilanzierung des bundesrepublikanischen Energiebedarfs zeigt jedoch, dass die unterstellte Abhängigkeit keinesfalls bei einer Realisierung von Nord Stream 2 eintreten wird. Hinzu kommt eine in diesen Tagen erzielt Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland über Garantien für Transiteinnahmen. Die trotz aller argumentativen Schwächen seitens der USA gemachte Offerte, statt des russischen Erdgases gefracktes amerikanisches Gas zu importieren, offenbart, dass die Schamgrenze der US-Administration konsequent nach unten verschoben worden ist. Es wird deutlich, worum es geht. Russland zu schaden, Deutschland zu schaden, Europa zu spalten und dabei noch ein Geschäft zu machen.

Es ist, wie es immer ist in Zeiten, in denen alte Ordnungen zerfallen. Niemand weiß so richtig, in welche Richtung sich alles entwickelt. Wer wird sich aus dem altvertrauten Ensemble wohin bewegen? Wo sind neue Bündnispartner oder neue Bündnisse? Das Beste in einer solchen Situation ist, sich der eigenen Interessen bewusst zu sein und diese als Orientierung für die Umschau nach neuen Partnerschaften fest im Blick zu haben. Verheerend dagegen ist das Lamento über den Verlust und die nostalgische Rückschau auf die guten alten Zeiten. Die Zeit, die beim Weinen vergeht, ist verlorene Zeit. 

Nord Stream 2 und die dieses Projekt arrondierende Politik ist deshalb so interessant, weil es genau diesen Prozess des Zerfalls der alten Ordnung und den Umgang der verschiedenen Akteure mit den eignen Interessen und denen der anderen agierenden Partner sehr anschaulich illustriert und zeigt, wer seine Ziele bündelt. Da sind die USA in einer herausgehobenen Position: Sie wollen gleich, um in ihrer Metaphorik zu bleiben, eine ganze Schar von Vögeln mit einem einzigen Schuss vom Himmel herunterholen, indem sie Deutschland und Russland wirtschaftlich schaden, verschiedene Staaten in Europa spalten und zudem ihr eigenes Frack-Gas zu saftigen Preisen verkaufen. Dagegen steht das deutsche Interesse nach nach diversifizierter Energieversorgung, das europäische Interesse nach vernünftigen zwischenstaatlichen Beziehungen, auch und eben mit Russland und eine ökologisch orientierte Energiepolitik.

Dass ausgerechnet die Grünen der amerikanischen Argumentation gegen Nord Stream 2 folgen, mag viele verwirren, ist allerdings so ungewöhnlich nicht. Manche sagen, warum sie das machen, weiß nur der liebe Gott. Den zu fragen geht allerdings im Moment schlecht. Denn der liegt, wie meist in diesen Tagen, leicht beschwipst vorm Backofen.