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Europa, kontinental gedacht

Wenn die Hektik groß ist und die Verwirrung zum vorherrschenden Gefühl wird, ist es  hilfreich, einige Schritte zurückzugehen und sich das Geschehen aus größerer Distanz zu betrachten. Das beruhigt den Blick und gibt einer größeren Objektivität eine Chance. Ein noch größerer Gewinn ergibt sich, wenn man die disputierten Maßstäbe beiseite lässt und andere Fakten zur Grundlage der Beobachtung nimmt. Das kann, dieses Risiko besteht, die gegenwärtig existierende Denkweise sogar aushebeln. Es birgt dann die Möglichkeit, die Gemengelage neu zu überdenken und andere Lösungsansätze zu begünstigen.

Bei dem Europa, von dem gegenwärtig in unseren Breitengraden die Rede ist, handelt es sich um ein zunächst ökonomisches, dann politisches und neuerdings auch ein militärisches Bündnis, das als Folge des II. Weltkrieges und des darauf folgenden Kalten Krieges entstanden ist und nach dessen Beendigung 1990 noch voran getrieben wurde. Mit dem europäischen Kontinent ist dieses Gebilde nicht identisch. Es umfasst nur einen Teil.

Nimmt man die in Europa als Muttersprache gesprochenen Sprachen, so sieht der Kontinent anders aus als das Residual-Europa, das momentan als gesamtes gehandelt wird. Die meist gesprochene Sprache in Kontinentaleuropa ist Russisch, das von 120 Millionen Menschen gesprochen wird. Es folgt das Deutsche, mit dem 100 Millionen kommunizieren. Danach kommen 80 Millionen Menschen, für die das Französische die Primärsprache darstellt und erst danach das Englische und das Türkische, beide Sprachen werden von 70 Millionen Menschen gesprochen. Die offiziellen Sprachen der als Europa gehandelten EU sind jedoch Französisch und Englisch.

Sieht man sich diese Dimensionen an, dann ist das Europa, von dem hier täglich die Rede ist, nur ein Bruchteil des Kontinents, der sich anmaßt, im Namen des Ganzen zu sprechen. Man kann die Disposition aber auch noch anders sehen. Sowohl der Polit-Geograph des British Empire, Halford Mackinder (Heartland Theorie), als auch der Hegemonial-Theoretiker der amerikanischen Dominanz, Zbigniew Brzezinski (The Great Chessboard), sprachen davon, dass es, um die eigene globale Vorherrschaft zu sichern, essenziell sei, einen Keil in die europäische Landmasse zu treiben, um vor allem Deutschland mit seinem kulturellen Hintergrund und technischen Know-How von dem an Ressourcen reichen Russland zu trennen. Gelänge dieses nicht, sei die eigene Weltherrschaft dahin. Der gegenwärtige Blick auf den europäischen Kontinent zeigt, dass die aus dieser Strategie abgeleitete Politik erfolgreich war und die europäischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat.

Die britischen wie us-amerikanischen Hegemonialtheorien haben sich in dem Rest-Europa als Staatsräson durchgesetzt und sind bis in die Sphären gegenwärtig hier zelebrierter Historiker zu verfolgen, ob sie Münkler oder Winkler heißen. Sie konzedieren den maritimen Weltmächten, die ihrerseits einen Krieg nach dem anderen vom Zaun brachen und brechen, das Attribut einer liberalen Demokratie, während sie den Landmächten Russland und China das des autokratischen Despotismus zuordnen. 

Von den Politikern Rest-Europas, die in das gleiche Horn stoßen, sei hier nicht die Rede. Das Debakel, in dem wir uns hier, am Rande Europas befinden, ist ein den Kontinent negierendes Sektierertum, das anderen Interessen als denen des europäischen Kontinents dient. Nähme man die Mehrheitsverhältnisse der Muttersprachler als Protagonisten kontinentaler Politik, dann wäre z.B. eine Allianz aus Russland, Deutschland und Frankreich das Architekturbüro. 

Doch wem das zu gefährlich klingt, bleibe weiterhin Zeuge, wie selbst der große Zeus die alles andere als schöne Europa verschmäht.

Europa, kontinental gedacht

Kobolde erklären die Welt

Die Szene von Friedrich Dürrenmatt beschrieb das Problem in der wohl eindrücklichsten Weise. Da sitzt der Wissenschaftler, der monatelang nach der Formel für die H-Bombe geforscht hatte, letztendlich mit Erfolg, erschöpft und glücklich an seinem Schreibtisch und lässt den Blick schweifen. Dabei sieht er seine Blumen, welk und verdorrt, er hatte sie völlig vergessen in seinem Eifer. Nun betrachtet er sie und weint, weil sie nicht mehr sind.

Die Spezialisierung und die Verfleißigung der Disziplinen sind das Ergebnis einer Revolution des Geistes. Nur durch die Aufklärung konnte der Weg frei gemacht werden für die bedingungslose Verfolgung des Details. Dass damit der Blick für das Ganze, vor allen von den größten Spezialisten, verloren gehen und sich dadurch eine fatale Wahrnehmung der Welt ergeben kann, gehört zu den Gefahren, die die Aufklärung mit sich brachte.

Der Blick für das Ganze ist in unseren Tagen, die eine Rückschau auf das Weltgeschehen bieten, die ermutigt und schockiert zugleich, in der die Irrtümer der Aufklärung mehr Opfer nach sich zogen als die Inquisition des Mittelalters, der Blick auf dieses Ganze ist die einzige Möglichkeit, gegen weitere Destruktionswellen ungeahnten Ausmaßes gefeit zu sein. Der Blick auf das Ganze außerhalb der rein privaten Lebenswelt ist das Metier der Politik. Ohne Politik existiert der Blick aufs Ganze nicht.

In diesen Tagen erleben wir jedoch eine andere Entwicklung. Im Zustand der Krise, die immer ein konzentrierter Ausdruck systemischer Spannungsfelder ist, kommen außer den Parteitrommlern kaum noch Menschen zu Wort, die durch ihre Fähigkeit zu politischem Denken und politischer Analyse bestechen. Selbstverständlich gibt es sie im Land, aber die offizielle Politik, d.h. die Regierung, sie besteht aus einem Personalkörper, der sich paradoxerweise des politischen Denkens entledigt hat.

Stattdessen, um dem Volk nicht die Politik, sondern den Weg der Regierung zu erklären, tauchen Vertreter genau der Gewerke auf, die Dürrenmatt in ihrer Weltverfremdung so treffend beschrieben hatte. Es sind immer dieselben, die sich aufdrängen, weil auch im Metier der Wissenschaften zuweilen noch ein Kodex herrscht, der verbietet, in fremden Wassern zu fischen. Diejenigen allerdings, die sich da medienwirksam verdingen, haben sich aller Kodizes entledigt. Wie der Ökonom mit dem merkwürdig verfremdenden Namen Sinn, der die Welt seinen Theorien anzupassen sucht. Was herauskommt ist eine Karikatur des Captain Ahab, einem Markenzeichen traniger Schuldentheorien. Oder jener Historiker Winkler, dem man wünschte, er verbrächte seine ganze Zeit beim Studium schwer zugänglicher Quellen, denn sein Predigerton bei der Erklärung der Welt macht auch ihn zu einer Karikatur. Absurdere historische Analogieschlüsse als er kann man nicht konstruieren, die Klügeren werden es sich sparen, seine als Standardwerke gepriesenen Bücher nach diesen Auftritten auch noch zu lesen.

Aber wollen wir gerecht sein! Letztendlich ist es nicht den erwähnten Zünften, der Ökonomie wie der historischen Wissenschaft, anzulasten, dass sie auch Kobolde hervorbringen, die sich im Besitz der Weltformel glauben. Die Kritik muss sich gegen die wenden, die keine politische Vorstellung besitzen, obwohl sie die Ämter von Politikern bekleiden. Sie sind es, die dabei sind, res publica, die Sache der Öffentlichkeit, aufgrund ihrer eigenen Phantasielosigkeit an Hasardeure und Scharlatane zu verschleudern. Die Hasardeure sind die Finanzoligarchen, die Scharlatane jene Wissenschaftler, die deren Spielerei auch noch als Notwendigkeit zu erklären suchen.