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Lektüre bei stabiler Gesundheit

Harry Mulisch. Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich

Es ist ein enorm schwieriges Unterfangen, nein, es gleicht einer Aufgabe, die durchaus als katastrophal bezeichnet werden kann. Es geht darum, eine Darstellung dessen zu fertigen, was man als die Quintessenz der Thesen und der Biographie Wilhelm Reichs bezeichnen könnte. Denn an kaum einem Charakter der politischen Psychologie scheiden sich die Geister mehr als an ihm, der radikaler war als sein Lehrer Sigmund Freud oder dessen berühmter Schüler C.G. Jung. Reich war ein Revoluzzer, der sich nicht an Konventionen hielt, dessen Marginalisierung ihm gleich war, der jedoch auch abglitt in den eigenen Psychosen, die ihn letztendlich nach heutigen Begriffen zu einem Verschwörungstheoretiker erster Güte werden ließen, der gemeingefährliche therapeutische Systeme entwickelte.

Harry Mulisch war ein niederländischer Schriftsteller, der als brillanter Erzähler galt und dessen Romane Die Entdeckung des Himmels und Das Attentat auch in Deutschland ein Massenpublikum erreichten. Dass sich dieser Schriftsteller auch Wilhelm Reich genähert hat, blieb bis heute weitgehend eine Randnotiz und ist zudem lange her, genauer gesagt, das niederländische Original seiner vielleicht am besten als erzählerische Studie zu bezeichnenden Schrift erschien 1973, die deutsche Übersetzung unter dem Titel Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich, 1999.

Mulisch beginnt seine Arbeit mit einer Episode aus seinem Alltag, er erzählt, wie er durch mehrere Zufälle auf die Bücher Wilhelm Reichs gestoßen ist und wie er sich ihm genähert hat. Das nimmt relativ Raum ein und mag als ein Indiz dafür gelten, wie schwer sich auch Mulisch getan hat. 

Es folgt die Biographie Wilhelm Reichs, die an seinen Publikationen rekonstruiert wird. Da steht ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit, in dessen Zentrum die Vater-Mutter-Beziehung steht, die desaströs im Tod beider endet und als dessen Verursacher sich das Kind als aktiver Beobachter sieht. Das mag ihn bei seiner weiteren Entwicklung geleitet haben, sich mit der Psychoanalyse Freuds zu beschäftigen. Zumindest wurde er deren glühender Verfechter, solange Freud die unterdrückte Libido als Quell der traumatischen Störungen sah, bevor er eine Instanz wie den Todestrieb einführte. 

Reich blieb seiner Theorie treu, es galt, das Bollwerk der unterdrückten Libido zu stürmen und die beladene menschliche Seele zu befreien. Er avancierte mit Sexualkunde in der kommunistischen Massenbewegung, bis ihn die kleinbürgerliche Parteibürokratie als Gefahr erkannte und ausschloss. Natürlich musste er vor den Nazis fliehen, verweilte zunächst in Norwegen, wo ihm und seinen Thesen letztendlich eine breiter werdende Ablehnung entgegenschlug und landete in den USA, wo er zunehmend abdriftete in immer wilder werdende Spekulationen. Schließlich landete er im Gefängnis und verstarb, als Wirrkopf abgetan.

Mulisch selbst beendet seine anscheinend für ihn selbst anstrengende Auseinandersetzung mit Reich mit dem, wozu ein guter Schriftsteller in solchen Situationen greift. Er wählt – analog zur Festung des sexuellen Bollwerks – die Eroberung des als uneinnehmbar geltenden Fort Douaumont im Frankreich des Ersten Weltkrieges. Er schildert, dass die Deutschen nur deshalb in der Lage waren, das Fort zu erobern, weil sie in es eindrangen und von innen eroberten. Die Maßnahme war jedoch eher unkoordiniert und zufällig, was dazu führte, dass die von außen angreifenden Deutschen nicht wussten, dass sich Teile der eigenen Truppe darin befanden. Zum Schluss war Fort Douaumont zwar geschleift, aber alle Insassen, Franzosen wie Deutsche, tot.

Noch Fragen?

Wer eine stabile psychische Gesundheit aufweist, möge dieses Buch lesen.

Das Superioritätsgefühl gegenüber noch kleineren Würstchen

Der Spiegel berichtet über eine Studie des Sozialpsychologen Oliver Deckert, der sich mit der Psychostruktur von Rechtsradikalen in Deutschland befasst hat. Die Quintessenz deutet auf einen starken Drang nach Unterordnung hin, was dem Bericht auch den Titel gab. Das ist sicherlich interessant, aber nun wirklich nichts Neues. Wer das viel pointierter und knalliger lesen will, der möge sich noch einmal die „Die Massenpsychologie des Faschismus“ des so schillernden und tragischen Wilhelm Reich beschaffen. Darin steck mehr Essenz als die Reduktion menschlichen Verhaltens in Bezug auf bestimmte Stimuli, es ist der gelungene Versuch, das Konzept der faschistischen Massenmobilisierung in Bezug auf menschliche Grundmuster zu dechiffrieren. Derartig radikale politische Ansätze sind allerdings in den gegenwärtig praktizierten Wissenschaften nicht en vogue.

Was mich bei dem erwähnten Artikel allerdings stört, das ist diese leicht arrogant näselnde Art, in der über die untersuchten Objekte berichtet wird. Nicht, dass vieles nicht zuträfe. Aber die Erzählung wird unterbreitet mit einer Note, die besagt, dass hier die kritische reflektierte Leserschaft versammelt ist und sich dort die deutsch-nationalen Dumpfbacken tummeln, die nichts kapieren. Es wäre dagegen ein Anlass für Freudenfeste, wenn daraus so etwas wie eine selbstkritische Reflexion resultierte, die versuchte, psychologische Wirkungsweisen von Unterdrückung auch auf andere Lebensbereiche auszudehnen. 

Was vielleicht kryptisch daherkommt, ist die einfache Überzeugung, dass gerade der Drang nach Unterordnung, der bei den Rechtsradikalen vielleicht psychopathologische Dimensionen annimmt,  ebenso ein Massenphänomen in der heutigen bundesrepublikanischen Gesellschaft ist. Wo wird denn gegen die Positionen der Obrigkeit öffentlich gestritten, wo wird das Recht auf Dissens in einem ur-demokratischen Sinne gelebt? Das Gerede von der Alternativlosigkeit wird seit langer Zeit hingenommen, die Narrative für eine schlechte Politik, die mit Feindbildern und verquasten  Dogmen arbeiten, erhalten kaum Widerspruch. Wer es dennoch wagt, der ist schnell geächtet und landet bezüglich seiner gesellschaftlichen Reputation schnell an Rändern, zu denen er nicht gehört. 

Distanziert betrachtet hat der medial vermittelte gesellschaftliche Konsens etwas Inquisitorisches erhalten. Und kommen wir einmal auf die eingangs erwähnte Studie zurück, so haben wir es hier, im Moment, eher mit dem zu tun, was der ebenfalls bereits zitierte Wilhelm Reich so vortrefflich in seiner „Rede an den kleinen Mann“ beschrieben hatte: An ein Phänomen der Massenunterwerfung, das den Faschismus erst möglich gemacht hat. Dieses selbstgefällige Wursteln zwischen der gefühlten eigenen Benachteiligung und der vermeintlichen Überlegenheit über andere, noch kleinere Würstchen. Genau das ist der Tenor des Artikels. Und somit ein alarmierendes Symptom für die existierenden Bewusstseinsströme. Ein Bericht über das psychische Elend einer politisch radikalisierten Gruppe wird benutzt um an das Superioritätsgefühl des Kleinbürgers zu appellieren, der seinerseits genauso zu beklagen ist wie die untersuchte Zielgruppe.

Es wäre an der Zeit, sich genauer die Mechanismen anzusehen, die bei der gegenwärtigen Durchdringung der Gesellschaft durch einen unkritischen Mainstream wirken. Die Institutionen, die dabei eine Rolle spielen, sind bekannt. Die Wirkungsmechanismen in Innern derer, die an der Nase herumgeführt werden, das Spiel aber mitspielen, müssen von Interesse sein.

Und, lesen Sie noch einmal Wilhelm Reichs „Rede an den kleinen Mann“! Das hilft gegen die Arroganz!

Massenpsychosen

Die Zeiten, in denen Massenpsychosen außergewöhnliche Zustände der Gesellschaft beschrieben, scheinen lange vorbei zu sein. Zeiten, in denen ein einziges Phänomen ausreichte, um eine längere gesellschaftliche Periode zu erklären, wie zum Beispiel die von dem umstrittenen Psychologen Wilhelm Reich durchaus zutreffend nachgezeichneten Phänomene der Massenpsychologie des Faschismus, die wirkten, bis sie im Untergang ihren Höhepunkt fanden.

Heute scheint es, als sei die Massenpsychose die große Überschrift über einen nicht abreißenden Zustand mit kurzen, immer kürzer werdenden Zuckungen. Gleich dem großen Bewegungsverlauf der nicht auszuhaltenden Beschleunigung jagt eine Psychose die andere. Dass da keine Zeit mehr bleibt, zu analysieren, was da eigentlich vor sich geht, versteht sich nahezu von selbst.

Man muss sich nur die einzelnen Episoden aneinanderreihen, um ein Bild davon zu bekommen, wie es um das Seelenleben der Gesellschaft bestellt ist. Noch vor der Jahrtausendwende dauerte das alles etwas länger, da hielten bestimmte Begriffe die Gesellschaft wenigstens einige Jahre in Atem, auch wenn die Hysterie genauso intensiv war. Da waren noch Fanale wie Tschernobyl, Lüchow-Dannenberg, der Borkenkäfer oder das Rauchen. Da konnten sich auch politische Kampagnen formieren, die wenigstens zu einem Diskurs führten und Schlussfolgerungen hervorbrachten, die zumindest ein Pro und Kontra im Denken zuließen. Aber spätestens mit Anbruch des 21. Jahrhunderts wurden die Gravitationskräfte außer Kraft gesetzt.

Dann kam PISA und das völlige Aus für die Zukunft. Vielleicht war das auch die Zäsur, weil mit der Überforderung der Gesellschaft, eine vernünftige Analyse einer erodierenden Bildung zustande zu bringen, genau die Voraussetzungen schuf, die notwendig gewesen wären, um der Hysterie die notwendigen Grenzen zu setzen. Seitdem gibt es aber kein Halten mehr. Der ganze Kanon dessen, was allgemein als Political Correctness beschrieben werden kann und dessen Autoren wie durch Zufall bis heute unbekannt blieben, wurde durchgehechelt. Missbrauchsfälle in alle Richtungen, sexueller, politischer, gesundheitlicher Art, in Bezug auf die Umwelt und die Moral, stattgefunden in der eigenen Gesellschaft oder in anderen Ländern dieser Erde, sie halten die Gesellschaft immer wieder in Atem, ohne dass es gelänge, zu fragen, ob der Kanon überhaupt sinnvoll ist oder, wenn ja, woran es liegt, dass plötzlich zu Bewusstsein kommt, dass irgend etwas nicht funktioniert, dass massenweise etwas geschieht, das eigentlich niemand will und dass so etwas überhaupt passieren konnte, ohne dass irgendwann die Anfänge irgend jemandem aufgefallen wären.

Es bietet sich an, die Erklärung dort zu suchen, wo das Leben im Alltag, im Profanen, nicht dem entspricht, was angeblich als politische Kultur für alle vorausgesetzt wird. Denn lange schon lebt ein Großteil der Gesellschaft nach den Maximen, die, vorsichtig ausgedrückt, als ziemlich utilitaristisch, wenn nicht egoistisch bezeichnet werden müssen. Da wird dann plötzlich, bei einer Abweichung von der irrtümlich angenommenen Allgemeingültigkeit deutlich, dass massenhaft etwas anderes geschieht. Und dann beginnt ein Reinigungsprozess, der sehr große Analogien zu den großen Prozessen der Heiligen Inquisition aufweisen. Das wird dann jedesmal heftig, dann müssen viele mit gesellschaftlicher Ächtung für etwas bezahlen, was von der Gesellschaft selbst bis zum Zeitpunkt der großen Eruption durchaus gebilligt worden ist.

Vieles spricht dafür, dass die Massenpsychose eine sich selbst stimulierende und regulierende Erscheinung ist, die aus dem Nicht-Vorhandensein eines gesellschaftlichen Konsenses resultiert.