Augenhöhe, Wertschätzung, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Wertegemeinschaft: im politischen Diskurs wie im Arbeitsleben der bundesrepublikanischen Gesellschaft dominieren momentan Begrifflichkeiten, die aus der eigenen Historie erklärlich sind und vieles von dem widerspiegeln, was sich zumindest in der Mittelklasse in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Im Hinblick auf die Bevölkerungsteile, die im täglichen Existenzkampf stehen, dürften diese Kategorien graue Theorie sein. Und wir reden von mindestens 10 Millionen Menschen. Zugegeben, das ist ein Schätzwert, gehen wir jedoch von einer realen direkten Arbeitslosenzahl von ca. 3,3, Millionen aus und ca. 7 Millionen, die als unterbeschäftigt gelten, also denjenigen, die von ihrem Verdienten nicht leben können, sind wir bereits über zehn Millionen. Und bei der Betrachtung der Weltereignisse, die gekennzeichnet sind von Naturkatastrophen, Kriegen und daraus resultierenden Migrationsbewegungen, dann dürfte schnell klar sein, inwiefern Augenhöhe und Wertschätzung, Achtsamkeit etc. Werte sind, die momentan globale Relevanz genießen.
Dass den Globus Krisen überziehen, ist kein Novum. Dass die Menschheit diese bisher alle in ihrer eigenen Geschichte überlebt hat, lag an schlichtem Überlebenswillen und der Bereitschaft, sich gegen das Übel entgegenzustellen. Die drei großen, immer wiederkehrenden Plagen waren Hungersnöte, Krankheiten und Kriege. Dank einer mächtigen Zivilisationsentwicklung sind die ersten beiden Faktoren de facto Gefahren, die vermieden werden könnten, griffe die Menschheit auf die Mittel zu, die sie als Kollektiv bereits besitzt: Es gäbe genug Nahrung für alle, würden die Produktionsweisen und Güter disseminiert und es gäbe die Chance, große Epidemien zu verhindern, würden die Mittel von denen bereit gestellt, die sie entwickeln und inne haben. Beides gelänge nur, wenn sich die sozialen Rahmenbedingungen um die Katastrophe herum verbesserten: gute Regierungsform statt Korruption, Räson statt Gier.
Lediglich eine der immer wiederkehrenden Katastrophen ist quasi in der historischen DNA des Homo Sapiens vorhanden. Es handelt sich um den Krieg als Mittel der Konfliktlösung. Momentan wurden wir wieder Zeugen, wie die unterschiedlichen Interessen der Welt, die geleitet sind von Vormachtstreben, Ressourcenbeherrschung und Marktbesitz, alles, was das humane Kollektiv seit dem letzten Weltkrieg an Räson gefunden hatte, wieder zu schreddern. Das Fazit: Es gelingt hervorragend.
Sehen Sie genau hin: diejenigen, die in ihrer politischen Rhetorik fließend von Wertschätzung und Nachhaltigkeit sprechen, beherrschen ebenso die militärische Eskalationsterminologie. Das mag man Rollenkompetenz nennen, aber es ist auch nicht ganz abwegig, einen Begriff zurück ins Leben zu rufen, der seit dem Kalten Krieg aus dem Vokabular verschwunden war. Es ist der des Doppelzünglers und bezeichnet jene, die dazu in der Lage sind, morgens von Wertschätzung und Work-Life-Balance in der Bundeswehr zu reden und die aus Afghanistan zurückkehrenden traumatisierten Soldatinnen und Soldaten totzuschweigen und nachmittags neue Kriegsdrohnen zu bestellen. Da mutiert der Homo sapiens schnell mal zum Reptil, und da wird es Zeit, sich an die Realitäten zu gewöhnen.
Denn die eingangs genannten Begriffe und mit ihnen bezeichneten Werte sind Fremdworte für die französischen Gelbwesten wie für die Menschen in Venezuela, sie helfen nicht den Umweltopfern in Brasilien und nicht den ersaufenden Migranten im Mittelmeer. Gut gemeint sind die Begriffe vielleicht einzuordnen als Seufzer der geschundenen Seele, als ein religiöser Strohhalm, weil in realiter der Humanismus längst auf der Straße liegt und verblutet. Nicht Selbsterfüllung, sondern Überleben steht auf dem Programm.

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