Wie sehr die politischen Auseinandersetzungen aus dem jeweiligen subjektiven Blickwinkel gefüttert werden, wird deutlich, wenn man sich die tatsächlich mess- und erfassbaren globalen Entwicklungen ansieht. Hierzulande ist es Brauch, sehr schnell der einen Seite kosmopolitischen Idealismus und der anderen rückständigen Provinzialismus vorzuwerfen. Allein dieser Umstand jedoch ist ein Hinweis auf tatsächliche, schnelle Veränderung und die Sehnsucht nach etwas anderem. Sind die Globalisierer verzweifelt über das Festhalten an Größen wie dem Nationalstaat und an staatlichen Institutionen, so sind die Befürworter von Nationalstaat und Ethnokultur sehr schnell bei dem Vorwurf, die Autonomie des Individuums, bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie ganzer Kulturen schlechthin stünden auf dem Spiel.
Fakt ist, dass seit der Epoche der großen Völkerwanderung, die ausgelöst wurde durch klimatische Veränderungen und der gleichzeitigen Vision anderer Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, die Zahlen globaler Migration nie so groß waren wie heute. Die Ursache dafür ist in der Dualität von Kriegen und dem nachrichtlich global erfassbaren Versprechen eines besseren Lebens in bestimmten Regionen dieser Welt. Die imperiale Gier nach Rohstoffen und geostrategischer Dominanz und das Smartphone sind die Hebel, die die registrierbare Massenmigration in Bewegung setzen. Dass sich daran auf kurze Sicht etwas ändern wird, ist eine Illusion.
Folglich wird es wenig bringen, sich über einen Trend zu beklagen, der nicht aufzuhalten ist. Massenmigration bedeutet, dass die Gesellschaften, die von ihr betroffen sind, ihre tradierten Gepflogenheiten, die sie als Identität begreifen, zwar weiter pflegen können und dürfen, dass sich in sie jedoch mehr und mehr andere Lebensgesten einschleichen werden, die diejenigen mitbringen, die hinzukommen. Alle Seiten eines solchen Prozesses stehen vor der gleichen Herausforderung. Sie müssen durch ihr Verhalten signalisieren, dass sie gewillt sind, die andere Seite, d.h. die andere Identität, zu respektieren und auf ihrer Grundlage einen Modus Vivendi zu finden. Nur so wird eine von Massenmigration durchdrungene Welt eine symbiotische und positive Entwicklung nehmen können. Und dieser Modus, der gefunden werden muss, ist der einer Art weltbürgerlicher Räson. Ob sie gefunden wird und ob sie in den großen Agglomerationszentren dieser Welt, den Megastädten, entsteht, ist die Frage unserer Zeit. Um es genauer zu sagen, es ist die existenzielle Frage.
Das positiv zu verzeichnende schwingt in einer Präzisierung des beschriebenen mit: Die beschriebenen Megastädte zeigen zu einem Großteil bereits, wie es geht. Sie sind der Modellbaukasten für die erwähnte weltbürgerliche Räson, weil es in ihnen, wo massenhaft unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen aufeinander treffen, diese Räson bereits gelebt werden muss, sonst versänken diese Metropolen im Chaos. Die Botschaft, die diese Städte mitbringen, ist die, dass nicht die Nationalstaaten mit ihrer eigenen strukturellen Diversität und Ungleichzeitigkeit die Lösungsmodelle für die Zukunft schaffen werden, sondern die Kommunen. Daher sind die wahren Pioniere unserer Zeit nicht die schwerfällig verhandelnden Regierungsdelegationen, die immer, egal womit sie sich befassen, unzeitgemäß wirken, sondern die Bürgermeister und Kommunalpolitiker der Metropolen, die sich gegenseitig besuchen, um voneinander zu lernen und sich gegenseitig praktisch helfen.
Die weltweit festzustellende Internationalisierung städtischer Lebenszusammenhänge ist nicht nur irreversibel, sondern sie wird sich noch steigern. Die Prognosen, dass die globale Verstädterung ca. um das Jahr 2050 abgeschlossen sein wird, beinhaltet die Aussage, dass nahezu die komplette Menschheit in Städten leben wird. Da ist die weltbürgerliche Räson, an der wir arbeiten müssen, kein Hirngespinst mehr. Sie ist bereits Tagesaufgabe.
