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Die längste Nacht

Kurz bevor der Schrei der Entlastung aus dem Resonanzkörper eines völlig überreizten Kollektivs erschallt, treffen bereits die nächsten Appelle ein. Waren es über die letzten Wochen die Aufforderungen, alles, was Sinn und alles, was keinen Sinn macht auf jeden Fall noch erledigen zu müssen, so sind es jetzt die Mahnungen zum Einhalten und Verharren in Stille. Ja, wer soll denn mit einem derartigen Tohuwabohu der psychischen und physischen Anspannung und Entspannung überhaupt noch klar kommen? Es ist, so scheint es, als wäre die kulturelle Vorgabe durch ihre Paarung mit dem Konsumismus zu einer idiotensicheren Anleitung zum Irrewerden gediehen.

Erst wird die Leistung über das mögliche Maß gesteigert, dann wird eine Energiezufuhr in Form opulenter Essen organisiert, die geruhsam mit einer kontinuierlichen Überdosis beschrieben werden kann und dann wird eine Ruhe verordnet, die nicht nur nach der gewaltigen Anspannung, sondern auch gar nicht mehr eingehalten werden kann. Der homo sapiens des digitalen Zeitalters hat es generell nicht mehr mit der kontemplativen Ruhe. Er beherrscht sie schlichtweg nicht mehr. Wenn nichts piept, blinkt oder summt, dann fühlt er sich abgetrennt vom Weltgeschehen und laboriert an einem ganz anderen Trauma.

Ja, werden viele sagen, die Kritik an dem, was hierzulande unter Weihnachten figuriert ist so alt wie das Fest selbst und die Verfälschung der Botschaft durch die wirtschaftlichen Begleitumstände einer verfleißigten Gesellschaft mussten schon immer kritisch gesehen werden. Stimmt, aber darum geht es nicht. Vielleicht sollten wir die archaischen Botschaften, die zu diesem Feste anstehen noch einmal freilegen und die religiös darüber gezogene Legende beiseite lassen. Ganz im Sinne strukturalistischer Deutung könnten wir dann zu Sichtweisen kommen, die dazu geeignet sind, positiv weiterentwickelt zu werden.

Heute ist der kürzeste Tag des Jahres, oder anders herum, es ist die längste Nacht. Die Natur hat gemäß ihrer alles in den Schatten stellenden Dominanz wie jedes Jahr unter Beweis gestellt, dass sie bestimmten Regeln folgt. Der Mensch der Moderne in seiner psychopathologischen Selbstherrlichkeit macht daraus genau das Gegenteil. Statt sich in der Nische der Nacht Gedanken über die eigene Nichtigkeit in einem viel bedeutenderem Ganzen zu machen, bläht er sich und sein Geschehen auf, als sei das Schauspiel reversibel. Ist es aber nicht, und deshalb führt der Hype vor Weihnachten auch nie zu einer wie auch immer gearteten Befriedigung. Denn trotz aller Versuche, dieses eine Mal alles in den Griff zu bekommen und zu dominieren, muss er schon im Januar wieder feststellen, dass seine Welt so profan wie vorher weiter geht.

Alles bleibt so wie es ist und der Versuch, der Natur die Macht zu entreißen entpuppt sich als Illusion. Die Geschichte mit dem Christkind, die sich der Abendländer bei diesem dreisten Unterfangen auch noch selbst erzählt, macht die Sache nur noch erbärmlicher. Der Mensch mit seinem Denken wird nunmal nicht zum Gott, da kann er machen, was er will. Was bleibt, nach dem Putsch gegen den großen Plan, das sind schlechte Blutwerte, Übergewicht und wahrscheinlich auch noch eine Beziehungskrise. Wie heroisch! Wäre es da nicht angebrachter, in Demut die Besonderheit dieser Zeit zu genießen, die langen Nächte zu nutzen, um sich mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen anstatt unter artifizieller Beleuchtung und Beschallung durch schlechte Musik grelle Pakete durch die Nacht zu schleppen, um sie Menschen vor die Füße zu werfen, denen ein Händedruck oder eine Umarmung wesentlich lieber wäre? Dem Prothesengott geht es schlecht in diesen Tagen, er starrt verstörter denn je in die lange Nacht.

Brassed Off

Selbst wenn die inszenierte Sentimentalität, die Konsumhysterie und die Gewissensrituale durchschaut sind, bleiben in der deutschen Psyche bestimmte Ereignisse verhaftet, die eine hohe Emotionalität garantieren. Auch mir geht es so. Ein Weihnachtserlebnis, das mir nie aus dem Sinn gehen wird, stammt aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Noch bevor hier in Deutschland die Bastionen der organisierten Arbeiterbewegung gestürmt wurden und der Neoliberalismus Konturen annahm, zerfetzte eine Premierministerin in Großbritannien, die sich selbst eine eiserne Lady nannte, den hoch industriellen englischen Norden wie einen Plüschtiger. Die Bergarbeitergewerkschaften, trade-unionistisch sui generis, halfen da nicht mehr, nur eine kleine, radikale, trotzkistische Union organisierte die Streiks gegen den Untergang. Hier in Deutschland versuchten wir die Streikenden zu unterstützen und schickten von unseren zusammen gekratzten letzten Kröten zu Weihnachten Lebensmittelpakete in die Streikregionen. Es half nichts. In wenigen Jahren wurden mehr als 100 englische Zechen geschlossen und während sich hier die Kumpels noch die Augen rieben über das, was in Deutschland eben erst begonnen hatte und noch verstärkt vor sich gehen sollte, waren die britischen Miners schon Geschichte. Das war sehr bitter, und den Weihnachtsabend, an dem wir uns in meiner Familie wegen der Streikenden in England zu streiten begannen, werde ich nie vergessen.

Jahre später, genauer gesagt 1992, erschien ein englischer Low Budget-Film mit dem Titel Brassed Off. Er erzählte noch einmal die Geschichte der englischen Bergarbeiter am Beispiel einer Blaskapelle. Das Schicksal dieser Blaskapelle und ihrer Protagonisten wurde zur Metapher von Englands Norden, dem Sterben der Zechen und der Mentalität von Bergleuten schlechthin. Für mich, der ich in einer Bergarbeiterstadt aufgewachsen war, fungierte Brassed-Off fast als Nachweis für das soziale Umfeld meiner Herkunft. Wenn Menschen, die aus anderen Regionen oder Milieus kamen und bestimmte Werte oder Verhaltensweisen meinerseits nicht verstanden, dann riet ich ihnen, sich diesen Film anzusehen.

Die Story des Films ist schnell erzählt: Eine Zeche, von der das ganze Gemeinwesen abhängt, ist kurz vor der Schließung. Gleichzeitig kämpft die Blaskapelle der Bergleute gegen ihren Niedergang. Die allgemeine Depression ihrer Mitglieder und die finanziellen Schwierigkeiten aller deuten auf ein schnelles Ende hin. Wäre da nicht zum einen der Dirigent und Mitgründer der Kapelle, der große Autorität besitzt und eine junge Analystin, die die Rentabilität der Zeche prüfen soll, aber aus dem Ort stammt und Enkelin eines Mitbegründers der Kapelle ist. Sie darf in der Kapelle mitspielen, weil sie im Ort geboren ist und das Flügelhorn ihres Großvaters beherrscht und gleichzeitig ihren Auftrag bei der Zeche verschweigt. Und der Dirigent geht seinen Weg ohne sich von seinen Überzeugungen abbringen zu lassen. Über viele Probleme und entsetzliche Schilderungen über den Niedergang des Gemeinwesens und die Zerstörung des Selbstwertgefühls mausert sich die Krisen geschüttelte Kapelle zum Sinnbild von Selbstrespekt und Kampfgeist. Zum Schluss gewinnt die Kapelle einen nationalen Preis in Londons Royal Albert Hall, den sie aber nicht annimmt, um auf Thatchers Politik der Zerstörung von Kohle- und Stahlindustrie hinzuweisen. Auch die Zeche in dem Ort wird geschlossen.

Seit Erscheinen des Films, der mich immer an die eigenen Aktionen in der Weihnachtszeit erinnerte, sehe ich ihn mir um Weihnachten herum an. Einfach weil es ihm so großartig gelingt, das Wesen der Bergarbeiter einzufangen und weil er mir immer wieder furchtbar unter die Haut geht. Im Jahr 2000 wurde Brassed Off auf einem Filmfestival in Jakarta gezeigt. Noch einmal: in Jakarta. Die Lebensbedingungen in dieser schnell wachsenden asiatischen Metropole sind kaum mit denen im alten Europa zu vergleichen. Dennoch interessierte mich gerade die Reaktion der Zuschauer auf den Film. Schon während er lief, in einem Kino mit 1.500 Plätzen, das restlos ausverkauft war, war es still. Als die Lichter angingen, erhob sich das überwiegend junge Publikum und applaudierte, nicht dem Film, sondern den englischen Bergleuten, die es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab. Der Applaus wollte nicht enden, schweigend standen sie da und hörten einfach nicht mehr auf. Sie machten die bereits untergegangenen Kämpfer zu Helden.