Schlagwort-Archive: Wandel

Ostenmauer – 36. Wandel

„Zuweilen, wenn uns das Alte nichts mehr und das Neue noch nichts sagt, mögen wir uns wundern über die Kraft, die in uns, in diesem Zustand des Schwellendaseins liegt. Vielleicht werden wir müßigen Gewohnheitsproselyten in jenen Stunden der Vor-Dynamik gewahr, dass die Kraft unseres Daseins im Wandel liegt? Denn wir sind dann erst bewusste Menschen, wenn wir uns wachen Auges der Veränderung stellen und heiteren Blickes das Glas der Vergänglichkeit leeren und mit russischem Übermut hinter uns werfen, auf dass es zerschelle an der kalten Wand der apodiktischen Gewissheit.“ 

10.01.1994

Wandel

Umbrüche

Wenn die großen Umbrüche stattfinden, dann bleibt zumeist nichts so, wie es einmal war. In der Erinnerung verklären sich dann die Bilder, vielen Menschen erscheint es dann so, als hätten sie in goldenen Zeiten gelebt und alles, was an Neuem entstanden ist, kann unter diesen Eindrücken nicht mehr imponieren. Nichts ist trügerischer als diese Art von Erinnerung. Sie liegt nämlich unter einem Schleier, der alles verdeckt, was in der Vergangenheit an Dreck, an Unrat, an Schmerz und an Verzweiflung existierte. Die so genannte gute, alte Zeit, entpuppt sich, wenn der realistische Blick die Oberhand gewinnt, als eine Fata Morgana. Zumindest für diejenigen, die sich erfolgreich aus ihr heraus gekämpft haben. 

Denn diejenigen, denen das nicht gelungen ist, die sind schon längst nicht mehr unter den Lebenden. Und, sollten sie es dennoch sein, dann haben sie keine Stimme mehr. Die einzige Gruppe, die zu recht über die goldene Vergangenheit sprechen kann, sind die ehemaligen Gewinner, die sich in Ruhm und Reichtum sonnen konnten, bis das alles zusammenbrach. Doch sie sind in einer verschwindenden Minderheit, wie immer. Das Gros der Gesellschaft muss kämpfen. Das war so in der verklärten Vergangenheit, das ist so während der Zeiten der großen Umbrüche und das wird so sein, wenn sich alles neu sortiert hat.

Umbrüche hat es immer gegeben. Auf der Oberfläche lassen sie sich als etwas beschreiben, das die Dominanz der Kräfte, die für ein bestimmtes Zeitmaß die Entwicklung maßgebliche bestimmt haben, an einem gewissen Zeitpunkt den Zenit erreicht hat. Dann lassen sich neue Kräfte beobachten, die innovativer sind, die mehr Dynamik besitzen und die andere Interessen verfolgen und die sich zum Angriff auf das Bestehende formieren. Zunächst erscheinen die herrschenden Verhältnisse dann als nicht mehr so gut wie allgemein dargestellt, vieles bekommt das Attribut „marode“ und die Eliten vermitteln ein Bild, als seien sie sich des Ernstes der Lage gar nicht bewusst.

Es ist wie eine Wiederholung der Kapitel in den Geschichtsbüchern, in denen die späte Dekadenz von Gesellschaften beschrieben wird. Da steht nur noch das eigene, in Verschwendung und Unmaß badende Wohlergehen im eigenen Fokus, da wird nichts mehr investiert, da findet keine Erneuerung mehr statt, da werden Probleme verdrängt und es wird ein Lied angestimmt, in dem die eigene Glorie auf Ewigkeit besungen wird, obwohl sie längst am Abgrund steht. Die späte Dekadenz am Ende einer Epoche ist das verlässlichste Zeichen für einen gravierenden Umbruch.

Denn während dieses Lärms, der durch die Sattheit und Verschwendung hier wie der wachsenden Not und dem Überdruss gegenüber dem Alten dort verursacht wird, wirken bereits die Kräfte des Wandels. Sie nutzen den Alltag, um die Routinen zu Fall zu bringen, sie erneuern alles, sie reden nicht viel und sie haben mit dem, was auf der großen Bühne passiert, nicht viel im Sinn, weil sie mit der Veränderung des Alltags alle Hände voll zu tun haben. Wenn diese Vertreter einer neuen Ordnung die Bühne betreten, dann ist bereits alles vorbei – für die alte Zeit und deren Prinzipien. Sie kann sich dann verklären lassen, von denen, die damals das Sagen hatten und denen, die an den Schmerz nicht mehr erinnert werden wollen. 

Die neuen Kräfte hingegen werden sich mit dem Neuen selbst, das oft technischer und wirtschaftlicher Natur ist, auseinanderzusetzen haben und dann daran gehen müssen, politisch ihre Interessen zu vertreten, um eine neue soziale Ordnung zu etablieren. In Zeiten des Umbruchs, wenn er denn in vollem Gange ist, bleibt für diejenigen, die ihn betreiben keine Zeit, in der Verklärung des Vergangenen zu verharren. 

Und wer bei der hiesigen Beschreibung bestimmte Bezüge zum Zeitgeschehen gewittert hat, verfügt über eine gute Nase.

 

Der falsche Blick auf das richtige Leben

Ganz nach Pliviers Romantitel „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“, so scheint sich jetzt der nahezu kollektive Abgang von Parteivorsitzenden zu gestalten. Nach Merkel geht es Seehofer so. Von der SPD gar nicht zu sprechen, denn dort ist der Parteivorsitz im letzten Jahrzehnt zu einem Schleudersitz geworden. Was manchen insgesamt dramatisch erscheint, ist es nur zum Teil.  Eigentlich ist ein Generationenwechsel im Gang. Das ist normal und selbstverständlich. Dramatisch ist das, was sich als Momentaufnahme dahinter verbirgt: Der Wunsch nach Wandel. Doch danach sieht es gar nich aus.

Mit Ausnahme der Grünen, die durch den Wechsel ihrer Spitzenkandidaten auch die politische Programmatik geändert haben und nun mit einem Pragmatismus einer neuen bürgerlichen Mitte werben, ist bei der SPD trotz der erfolgten personellen Wechsel keine neue, deutlich von der Vergangenheit absetzbare neue Kontur zu erkennen. So wenig wie die alte umrissen war, von allem ein bisschen, von Neuem wenig bis gar nichts. Nun die CDU. Und da entpuppen sich die  aussichtsreichsten Kandidaten entweder als die Perpetuierung des Alten oder der Revisionsmus des ganz Alten. Und bei der CSU sieht es so aus, als rüsteten die Kannibalen zum finalen Staatsstreich.

Das Bild, das sich ergibt, ist keine Werbung für das Parteiensystem. Anscheinend wirkt die auch durch die Verfassung garantierte mächtige Stellung der Parteien mit ihren Rechten und Privilegien nun, in Zeiten einer sich verstärkenden Krise, hemmend auf die vorhandenen Innovationskräfte. Es ist zu beobachten, dass die vermeintlichen Kurswechsel angelehnt sind an Zeiten, in denen es den Parteien in Bezug auf ihre Resonanz in der Gesellschaft noch gut ging. Verkannt wird dabei, dass diese Zeiten nicht dadurch zurückgeholt werden können, indem man die alten Muster reaktiviert. Der große Haken bei diesem Kalkül ist die Tatsache, dass sich die Gesellschaft gewaltig geändert hat. 

Das klassische Proletariat ist nicht mehr in der alten Dimension vorhanden, es existiert ein wesentlich größeres Heer von sozial Abgehängten, für die in den Wertschöpfungsketten kein Platz mehr ist, der Mittelstand besteht zunehmend aus Erfolgsmodellen der kreativen Branche und das Unternehmertum spaltet sich in müde Monopolisten, finanzspekulative Couponschneider, einen hochtechnologischen Mittelstand und eine alternative Konsumkultur. Da ist es für die in den traditionellen Parteien sozialisierten Funktionäre schwer, sich neu zu orientieren. Denn die Maximen und Standards der heutigen Wertschöpfungsprozesse wurden aus unmittelbarer Nähe nie erlebt.

Längst formieren sich neue politische Kräfte jenseits der die Aufmerksamkeit absorbierenden parlamentarischen Auseinandersetzungen von Gestern. Dazu beigetragen hat auch die bleierne Erfahrung aus gefühlten Jahrzehnten großer Koalitionen. Immer mehr drängen die Bürgerinnen und Bürger in Foren, die direkte Beteiligung versprechen. Es geht darum, das konkret aus politischen Entscheidungsprozessen Hervorgehende direkt in seiner praktischen Umsetzung mit zu beeinflussen. Unzählige neue Formen sind bereits entstanden, Zukunftsmärkte, Bürgerforen, Town-Hall-Versammlungen, bis hin zu von der Verwaltung moderierte kommunale Strategieprozesse. Das, so scheint es, ist als Information von den herrschenden nationalen Institutionen kaum wahrgenommen. Doch dort, wo diese Prozesse bereits laufen, wird berichtet, dass der Grad der Partizipation in hohem Maße und in hoher Zahl positiv bewertet wird.

In diesem Kontext von Politmüdigkeit zu sprechen, dokumentiert allenfalls einen falschen Blick auf das richtige Leben. Wer zu lange im Türmchen sitzt, darf sich nicht wundern, dass irgendwann die Landschaft, die er beim Eintritt in die abgeschottete Welt im Kopf hatte, ganz anders aussieht.