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Die kulturelle Wüste und die neue Avantgarde

Gefühlt liegen die Zeiten leichter Orientierung Lichtjahre zurück. Die Erinnerung, die suggeriert, es hätte noch funkelnde Ideen und Helden gegeben, die diese umsetzten, ist im kollektiven Gedächtnis verblichen. Ob es sich tatsächlich um eine Illusion handelt, dass es so etwas einmal gab? Die Meinungsmacher dieser Tage behaupten es. Und sie treffen dort auf Zustimmung, wo man berechtigterweise die Verklärung des Alten anzweifelt. Damit ist der Kuchen aber nicht gegessen. Verklärt werden soll gar nichts, die Stupidität, der Zynismus und die Gefräßigkeit des Jetzt ist jedoch weder normal noch attraktiv. Zu allem, was die Geschichte der Menschheit beflügelt, gehört eine Avantgarde. Die bei allem Triumphalismus über den Status Quo zu finden, ist nicht möglich. Die These: sie ist dabei, sich zu formieren, allerdings jenseits der gepflegten Öffentlichkeit, da sie an einem gesellschaftlichen Gegenentwurf arbeitet.

Dabei wären wir bei dem Zustand, den Totalitarismen hinterlassen. Es handelt sich um eine soziale wie kulturelle Wüste. Wie beeindruckt waren die zeitgenössischen Leser, als ein Milan Kundera das Prag hinter dem Eisernen Vorhang beschrieb. Die Zeit ohne Humor und Kultur, die Kälte, und das Schwinden intellektueller Helden. In seinem 1984 veröffentlichten und kaum noch wahrgenommenen Aufsatz – Un occident kidnappé ou la tragédie de l’europe centrale – hatte Kundera diese Wüste beschrieben. Diesmal die im Reich der UdSSR.

Letztere existiert seit 1991 nicht mehr. Der Westen, die selbst gefühlte Freiheit, übernahm und mit ihr der neue Totalitarismus des Marktes. Was dieser bewirkt hat, ist momentan überall zu beobachten: Die Zerstörung der Gemeinwesen, desolate Mentalitäten, das Reüssieren von irren Typen in der Politik und der gefühlte Tod der Kultur. Es ist, als säßen wir in einer Zeitmaschine und liefen mit Milan Kundera und seinem Freund durch die leeren Straßen des nächtlichen Prags in den Zeiten des Kalten Krieges.

Der „Westen“ hat es fertiggebracht, ein Déjà-vu über einen Zustand herzustellen, der längst überwunden zu sein schien und für den kein böser Gegenspieler verantwortlich zeichnet. Die Zeit, als man glaubte, sich zusammenreißen zu müssen, weil sonst die Attraktivität des ideologischen Gegenübers zunehmen könnte, ist seit Jahrzehnten vorbei und es ist zu verzeichnen: Der Teufel wohnt auch im Westen und fühlt sich hier recht heimisch.

Walter Benjamin hatte in seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ unter anderem auf die Fähigkeit des Verwertungssystems hingewiesen, genuin rebellisches Gedankengut zu einer Ware zu machen und ihm durch die Vermarktung die soziale Brisanz zu nehmen. Hoppla, sind wir da nicht bei dem, was wir massenhaft erleben? Das vermarktete Abfeiern einer politisch wie künstlerisch agierenden  Avantgarde, die entstanden war gegen die imperialistischen Kriege in Vietnam und in verschiedenen Ländern Afrikas, und die den Kapitalismus auf die Anklagebank setzte und ihm den Spiegel vorhielt? Die Traditionen verfremdete und Neues schuf? Nostalgisch verklärt und geriatrisch verbrämt liegt das alles als Ramsch auf dem Warentisch zum Schlussverkauf des Wirtschaftsliberalismus.

Mit Avantgarde hat das wiederum nichts mehr zu tun. Die Avantgarde entsteht momentan in anderen Teilen der Wahrnehmung. Es sind die verbotenen Zonen, gegen die so gerne gewettert wird als die Foren des Mobs. Schön, dass sich die Vertreter der kulturellen Friedhofsruhe so outen. Aber außer der Nostalgie gegenüber einer Avantgarde, die sie, wäre sie noch voller Leben und präsent, tief verachtet hätte, haben sie nichts zu bieten. Was bleibt, ist abgedroschene Fahrstuhlmusik.

Die Anfangs zitierte Tragödie Zentraleuropas wirkt mittlerweile im ganzen Wirkungsgebiet des selbst ernannten freien Westens. Ohne Camouflage hat dieser seine Attraktivität längst eingebüßt. Durch die Vermarktung einer historischen Avantgarde wird er nicht gerettet. Und in den Katakomben der kontrollierten Öffentlichkeit formiert sich bereits ein neuer, konstruktiver und demokratisch verstandener Gegenentwurf.

Im Lotterbett der Kolportage

Lange vor der Digitalisierung von Produktionsbedingungen hatte Walter Benjamin den berühmten Aufsatz mit dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geschrieben. In der Arbeit zeigte Benjamin, dass er seiner Zeit weit voraus war. Messerscharf analysierte er vor allem, inwieweit das reproduzierte Kunstwerk selbst die Wirkung auf das es betrachtende Publikum verändere. Er sprach von der Aura eines Artefakts, der verloren ginge, wenn die Serienproduktion bekannt sei. So weit, so gut oder so schlecht. Viele seiner Beobachtungen in diesem Aufsatz sind bis heute überdenkenswert, auch wenn selbst kaum anzunehmen ist, dass Benjamin an den Universitäten positivistischer Weltbetrachtung noch gelesen oder gelehrt wird.

Heute, im digitalen Orkan, scheint die technische Reproduzierbarkeit als Problem der kulturellen Rezeption nicht mehr die zentrale Frage zu sein. Es hat sich vor allem mit der digitalen Revolution und dem damit verbundenen Zugang zu weltweiten, kollektiven Kommunikationssystemen und deren Portalen und Foren noch etwas anderes, gravierendes getan. Das, was immer die Grundlage eines jeden künstlerischen Schaffens gewesen ist, das Kreieren von etwas Neuem, scheint der originellen Kolportage gewichen zu sein. Vor allem in den so genannten sozialen Medien ist zu beobachten, dass die sich dort tummelnden Menschen nicht die Gelegenheit einer im Vergleich zu früher ungeheuren Publizität nutzen, um ihre originellen Gedanken, Ideen, Formversuche, Erkenntnisse oder Thesen zur Diskussion zu stellen.

Stattdessen bemühen sie sich in erster Linie darum, die Kolportage zu perfektionieren. Posts, die zwar originell sind, aber nicht Neues zu bieten haben, werden geteilt, um der Community zu demonstrieren, welche genialen Zugänge man hat. Dass es sich dabei um schlichte Zufallstreffer handelt, die irgendwo im Netz gefunden wurden, spielt dabei keine Rolle. Neben dem Fakt der Kolportage kommt noch hinzu, dass es sich in den seltensten Fällen um einen Affront handelt, der eine Diskussion entfachen könnte, der man sich vielleicht auch unter Inkaufnahme einer unangenehmen Auseinandersetzung stellen müsste. Es sind Signale des Konsenses, die mit den kolportierten Posts ausgesendet werden.

Kreativität ist ein Prozess der Freisetzung von Gedanken und Gedankenkombinationen, in dem die Schaffung von einem neuen Sinnzusammenhang im Mittelpunkt steht, der letztendlich nicht nur gedacht, sondern auch materialisiert und sozialisiert werden muss. Zuerst kommt die Idee, die in eine Form zu bringen ist und dann eine wie immer geartete gesellschaftliche Akzeptanz erarbeiten muss. Dass ist ein Weg, der jeder neuen Idee und jedem kreativen Prozess bevorsteht und der gelernt werden muss, weil er alles andere als einfach ist. Das Spiel des Scheiterns ist jenen, die ihr Augenmerk entweder auf die Kunstgeschichte oder den Wissenschaftsprozess gerichtet haben, bekannt: Die geniale Idee ist nichts ohne ihre Formung oder technische Realisierung und das neue Artefakt wird verkannt, wenn die Idee und der Nutzen der Gesellschaft aufgrund von Unverständnis nicht plausibel ist.

Die angepriesene Möglichkeit der digitalen Kommunikation hat, zumindest als Massenphänomen, der Kreativität bis heute nicht die Tür geöffnet. Stattdessen wirkt ein Erziehungsprozess, den Stefan Zweig einmal, natürlich in einem anderen Kontext, denn da bezog er sich auf die Auftragsproduktionen eines Honoré de Balzac, das Lotterbett der Kolportage genannt hat. In den sozialen Netzwerken wird die Kolportage bis zum Exzess geübt, statt die Möglichkeit genutzt, das selbst Erdachte in den Sturm der Kritik zu stellen, um es zu erproben. Denn die Kritik ist die Mutter der Schöpfung, wer sie nicht aushält, der oder die kann nichts gestalten. Weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft, und schon gar nicht in der Politik.

Der Tod des Flaneurs

Das Bild derer, die die Welt in sich aufnehmen und auf sich wirken lassen, um ein Begriff von ihr zu bekommen und sie zum Teil erklären zu können, hat sich im Laufe der Geschichte verändert. Das ist nur logisch, denn die Umstände, die die verschiedenen Zivilisationen produzierten, wiesen die Individuen in sehr unterschiedliche Perspektiven. Der antike Philosoph Europas unterschied sich nicht sonderlich von seinen spirituellen asiatischen Pendants und auch nicht von den Weisen anderer Hochkulturen auf anderen Kontinenten. Ihre Erklärungswelt lag in den Bewegungsläufen der Natur. Daher entsagten sie mehrheitlich der zivilisatorischen Störung, wie sie diese empfanden. Mit Nationenbildung und Verstaatlichung durchliefen die Zivilisationen einen entscheidenden Veränderungsprozess, der zur Folge hatte, dass die menschliche Zivilisationsstufe selbst als Erklärungsmuster und Untersuchungsgegenstand in den Fokus geriet. Die monotheistischen Religionen sind wohl das mächtigste Abbild hierarchischer Herrschaft.

Die Aufklärung sollte Licht in das entsetzliche Abgleiten menschlicher Erkenntnis in die Dunkelkammern der eigenen Machenschaften bringen. Die Philosophie der Aufklärung wählte deshalb den Weg über die Naturwissenschaften, um aus dem Tunnel wieder herauszukommen. Das gelang zum Teil, denn eine entscheidende Hürde war in der emotionalen Unfähigkeit vieler Menschen begründet, die gewonnenen Erkenntnisse, die auf einem freien Willen begründet waren, weder umsetzen zu können noch zu wollen.

Das, was als Industrialismus und Moderne bezeichnet wird, brachte eine zivilisatorische Konzentration hervor, die die naturwissenschaftlich prolongierten Erkenntnisse der Aufklärung wieder verschlüsselte. Alles, was folgte, widmete sich den Erscheinungen des Prozesses der Zivilisation. Das plumpe Hilfsmittel menschlicher Entwicklung, die Technik, erhielt einen nie geahnten Status. Je höher der Organisationsgrad von Wirtschaft und Staat wurde, desto stärker wurde der Eindruck, dass gerade die Technik das Wesen der Dinge sei. Technik bekam einen eigenen Charakter, der immer entfremdeter von der menschlichen Schöpfung einen eigenen Weg zu gehen schien. Plötzlich griff die vermeintliche Erkenntnis um sich, das Wesen des Daseins sei die Technik selbst. Die Erklärung der Welt wurde verwechselt mit der Entschlüsselung einer zivilisatorischen Krücke. Das technokratische Zeitalter war geboren und sein Ende ist noch lange nicht in Sicht.

Nicht, dass die ganze Moderne und alles was ihr zu folgen schien arm gewesen wäre an Versuchen, diesen Fluch zu durchbrechen. Einerseits versuchten die radikalen Ökonomen, das Wesen der wirtschaftlichen Organisation und Funktion zu durchdringen. Sie bedienten sich dabei wissenschaftlicher Kategorien, die sich notwendigerweise an das logische Instrumentarium der eigenen Disziplin halten mussten. Daher ist es aus heutiger, bescheidener Sicht nicht verwunderlich, dass sie analoge Gebilde wie die analysierten hervorbrachten. Ein anderer Versuch, der nahezu kuriose Anfänge beinhaltete, war der, durch nahezu rauschhafte Sinneswahrnehmung zivilisatorische Impressionen zu sammeln, um sie zu dekonstruieren und zu rekonstruieren. Der erste Versuche dieser Art war Walter Benjamins Haschisch in Marseille, die logische Folge das Pariser Passagenwerk desselben Autors. In letzterem schuf er den bis heute letzten philosophischen Versuch, die Moderne mit ihrer orkanartigen zivilisatorischen Entwicklung zu entschlüsseln. Benjamins dezidiert genannter Protagonist dieses Prozesses war der großstädtische Flaneur, der wachen Auges durch die Passagen und Korridore des zivilisatorischen Konzentrats wandelt und assoziativ nach neuen Wegen der Erkenntnis sucht.

Allerdings haben sich nicht nur die Formen der Mobilität verändert. Die Frage ist, ob sich aufgrund der von den Organisationsformen immer enger verwalteten Zeitkontingenten, die davon abhalten, die Rolle des Flaneurs einzunehmen, nicht auch die Fokussierung des menschlichen Blickes die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung erheblich eingeschränkt hat. Der Blick auf Smartphones und Tablets, selbst beim Laufen in der Stadt, legt die Vermutung nahe, dass der Flaneur schon lange tot ist. Zumindest der, der zur Welterkenntnis beitragen könnte.