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Wahlen: Ein Recht verwirken lassen?

Es mangelt nicht an Appellen. Geht zur Wahl, gleich einem Mantra wird wiederholt, wie wichtig es ist, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Angesichts der Geschichte ist es eine vernünftige Einlassung. In Europa gab es Zeiten, in denen kein Wahlrecht existierte. Dann wurden Teile der Bevölkerung, zumeist die privilegierten, zugelassen, um sich zur Besetzung von Staatsfunktionen oder Entscheidungsgremien zu äußern. Nach und nach, in einem alles andere als friedlichen Prozess, wurde das freie, geheime und gleiche Wahlrecht erfochten. Das Wahlrecht, auch für Frauen, ist in Deutschland ohne die organisierte Arbeiterbewegung undenkbar. Die Etablierung dieses Rechts hat nicht dazu geführt, dass die Mehrheiten ihre Politik hätten verwirklichen können.

Demokratie und Parlamentarismus basieren auf Kompromissen und Machtverhältnissen. Auch in dieser Staatsform ist bereits im Namen der Terminus der Herrschaft geblieben. Das zu bewerten ist Unsinn, weil Herrschaft zu den Axiomen gesellschaftlicher Verhältnisse gehört. Zu suggerieren, es wäre nicht so, ist eine Verkennung sozialer Existenz und erzeugt Illusionen. Wer wählen geht, schafft keine Herrschaftsverhältnisse ab. Er oder sie kann die Ausübung von Herrschaft beeinflussen, aber nicht die Herrschaft selbst.

Allerdings existieren noch andere Zonen auf dieser Welt, in denen selbst dieses Recht sehr vielen verwehrt wird. Da wird überhaupt nicht gewählt, oder wenn, werden die Ergebnisse so gebeugt, dass die Herrschenden genau das machen können, was sie sowieso vorhatten. Es ist der zivilisatorisch primitivste Zustand, den das Zeitalter der Moderne noch zu bieten hat. Aus der Perspektive dieser Staaten sind die Rechtsverhältnisse in unseren Breitengraden ein Privileg, das viele andere gerne hätten.

An die intrinsische Motivation zu appellieren oder auf sie zu setzen, wie dieses gerade in diesen Tagen immer wieder gemacht wird, greift zu kurz. Der Appell setzt auf ein Langzeitgedächtnis, das in dieser Form kaum noch existiert. Die Erfahrungen, die dazu geführt haben, dass der Wille, zur Wahl zu gehen, auf immer weniger Resonanz stößt, gehen zum einen darauf zurück, dass die rechtsstaatliche Existenz über einen sehr langen Zeitraum nicht mehr fundamental gefährdet war. Niemand, außer den sehr Alten, kennt noch aus eigener Anschauung die Zeiten, in denen die Schergen einer Diktatur im Morgengrauen mit einem LKW Vorfahren konnten, um Freigeister und andere Unliebsame einzuladen und sie in Folterkeller oder Todeslager abzuholen, ohne dass etwas dagegen hätte unternommen werden können.

Die andere, vielleicht noch wichtigere Erfahrung hat ein komplizierteres Umfeld. Es geht dabei um eine Verselbständigung von Politik, die vieles so erscheinen lässt, als würden die Bedürfnisse, die die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, danach kaum noch eine Rolle spielen. Dafür spricht vieles, wenn man sich konkrete Regierungspolitik genauer ansieht. Ein weiterer, wichtiger Aspekt, ist die Verabschiedung der Politik, und an diesem Prozess ist die gesamte Bevölkerung beteiligt, von einer Programmatik, um die es geht. Politik hat sich personalisiert. Bei aller Diskussion um ihre Richtung spielen die persönlichen Stärken und Schwächen und ihre Vermarktungsmöglichkeit eine größere Rolle als die Weichen, die gesellschaftspolitisch gestellt werden müssen, um das komplexe Gebilde am Laben zu erhalten. Politik ist in vielerlei Hinsicht zu einem Showbusiness geworden, dessen gesellschaftliche Relevanz immer mehr an Bedeutung verliert. Das aufzulösen ist die eigentliche Aufgabe.

Und dennoch: Ein Recht verwirken zu lassen führt nie zu dessen Stärkung. Es ist der Gestus von Beleidigten, die nicht mehr die Kraft aufbringen, um Gestaltung zu kämpfen.