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Vorurteil und Massenpsychologie

Georges Simenon. Die Verlobung des Monsieur Hire

Kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat so viel produziert wie er und kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wurde derartig in die Schablone gesteckt wie er. Georges Simenon, der in Lüttich geborene Belgier, wird bis heute vom breiten Publikum nahezu exklusiv in Verbindung gebracht mit seinen in Paris spielenden Kriminalromanen des Kommissar Maigret. Damit hatte er Erfolg und damit erlangte er Ruhm schon zu Lebzeiten. Seine Geschichte in der Wahlheimat Frankreich hingegen ist durchwachsen. Eine von den deutschen Besatzern ins Antisemitische interpretierte Publikation reichte aus, um ihn nach der Befreiung heftig anzugreifen. Er wählte das Exil nach dem Exil, zunächst ging er in die USA und schließlich ließ er sich in der Schweiz nieder, wo er auch starb

Neben den Kriminalromanen und tatsächlicher Trivialliteratur schuf er jedoch Romane, die aufgrund ihres psychologischen Tiefganges bis heute sehr lesenswert sind und durch neue Editionen gerade erst von einer neuen Öffentlichkeit entdeckt werden. Die Verlobung des Monsieur Hire zählt zu diesen Meisterwerken. Der Roman wurde 1933 zum ersten Mal veröffentlicht, spielt in Paris und ist eine geniale Erzählung über Vorurteile und Massenpsychologie.

Ohne die Handlung, die gekonnt durch ihre emotionslose wie distanzierte Schilderung große Spannung erzeugt, ist vom Grundmuster sehr einfach. Es geht um den Mord an einer Prostituierten und seine vermeintliche Aufklärung. Das Entscheidende jedoch ist die Beschreibung des Protagonisten, der durch die Denkmuster der ihn umgebenden Außenwelt in Generalverdacht gerät. Monsieur Hire, ein fettleibiger, kleinwüchsiger, teigig wirkender Mann, der gleich einem Uhrwerk seinen Geschäften nachgeht, aus denen niemand schlau wird. Das, was als das Obskure in den Augen der ihn umgebenden Nachbarschaft entsteht, resultiert aus seiner Diskretion und der Verdacht, der einer Vorverurteilung gleicht, erwächst aus seiner Neigung zum Voyeurismus wie aus dem Besuch eines Freudenhauses.

Die Beobachtungen der Polizei führen zu nichts. Beschattet und beobachtet, fasst sich Monsieur Hire ein Herz und besucht den ermittelnden Kommissar auf dem Revier, der ihn damit überrascht, dass es eine Akte über ihn gibt, die nicht nur seine Geschäfte am Rande der Legalität beinhaltet, sondern auch seine familiären Verhältnisse. Als Sohn eines aus Osteuropa stammenden jüdischen Schneiders, der noch den Namen Hirowitz trug, wird die Blaupause für ein kriminelles Profil, das so nicht existiert. Der Antisemitismus dieser Tage reicht aus, um ihn durch die Straßen von Paris zu hetzen wie ein Tier.

Simenon verzichtet auf psychologische Analysen. Durch die präzise, kalte Beschreibung der Routinen entblättert sich bei der Leserschaft ein Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse und Vorurteile. Der eher bemitleidenswerte Mann, der unter seiner Attraktivitätslosigkeit und seinem mangelnden Selbstwertgefühl leidet, wird zur Ursache des Verdachtes schlechthin. Ohne Indizien, ohne verlässliche Zeugen und ohne Geständnis zieht sich der Strick um ihn immer fester zu. Das, was die Polizeiarbeit, solange sie unbefangen ist, ausmacht, die Recherche und Analyse, spielt plötzlich keine Rolle mehr und es ist eine Frage der Zeit, wann dieser Monsieur Hire ihr in die Maschen geht. Als es zum Showdown kommt, verliert die Polizei die Regie und der zusammengekommene Mob jagt ihn in ein verhängnisvolles Ende. Die Leserschaft weiß um die Umstände, sie weiß, wer tatsächlich den Mord begangen hat und dass Monsieur Hire das Opfer einer Täuschung ist. Das spielt aber keine Rolle. Sie wird gefesselt durch die Wirkmechanismen von Vorurteilen und Massenpsychologie.

Vom Kriege

An ihren Taten sollt ihr sie messen! Kaum ein Wort aus der Heiligen Schrift hat bis heute eine derartig überzeugende Wucht. Wahrscheinlich, so könnte man es realistisch formulieren, liegt das daran, dass es dieses Diktum überhaupt dorthin geschafft hat. Wie dem auch sei! Der Satz gilt immer noch, und mehr denn je. Und man sollte ihn sich vor allem in einer Gesellschaft vor Augen führen, die so viel Wert auf Wertschätzung, Transparenz, Emanzipation und politische Korrektheit legt. Eine einzige Personalentscheidung hat dieses Konsortium der Heiligkeit in mächtige Aufregung versetzt, weil eine Domäne gestürmt wurde, die noch mehr als Sanktuarium der Männer gilt als der Fußball. Es handelt sich um das Militär.

Mit der Benennung von Frau Ursula von der Leyen als Bundesverteidigungsministerin wurde nicht nur eine Bastion gestürmt, sondern auch der Lackmustest für die moralische Herrschaft unserer Tage bereitet. Und welch Wunder: Nicht die konservativen, von einem gemütlichen Paternalismus inspirierten Kreise gingen emotional auf die Barrikaden, sondern all jene Kräfte, die sich als die Gralshüter des Fortschritts begreifen und zu verkaufen suchen. Das, was an Kommentaren über die mutige Frau aus diesem Lager kam, kann als das Abgeschmackteste der letzten Jahre beschrieben werden. Von zotigen Witzen über die feminine Stimmlage über ausgefranzte Metaphern wie die Mutter der Kompanie bis hin zu Anzüglichkeiten über den weiblichen Körper in Uniform ließen sich die Fortschrittlichen des Landes aus und entlarvten sich damit allesamt als Hochstapler in Sachen Emanzipation.

Mit ihrer bis jetzt reichenden Biographie hat die neue Ministerin sehr wohl gezeigt, dass sie in der Lage ist, schwierige Organisationen zu managen. Acht Kinder und einen qualifizierten Beruf zu haben ist schon eine kolossale Leistung in unseren Strukturen, die man nicht durch einen dezenten Verweis auf private Vermögensverhältnisse zu schmälern suchen sollte. Und ihr Wirken im Arbeits- und Sozialministerium muss man hinsichtlich der politischen Zielsetzungen nicht vollends unterstützen, aber anerkennen sollte man schon, wie deutlich sie dort ihre Führungsaufgabe wahrgenommen und wie gut sie die Rolle der internen Kommunikation begriffen hat.

Eigenartigerweise hat das alles bei der kritischen Betrachtung der Personalentscheidung keine Rolle gespielt. Und noch eigenartiger ist, dass aus dem Lager der Kritik kein Wurf kam gegen die ersten zugegeben verwegenen programmatischen Aussagen aus dem Munde der Ministerin. Denn bei einer Berufsarmee die Vereinbarkeit von Familie und Beruf an die erste Stelle zu setzen, auf diese Nummer kommen normalerweise nur angetrunkene Offiziere im Casino. Die Ministerin wäre gut beraten gewesen, sich zur Strategie dieser Armee zu äußern oder über die Entwicklung der Waffenarsenale als über Kinderkrippen. Bei der anhaltenden Kritik gegenüber den USA sollte klar sein, dass die militärischen Belastungen der Bundesrepublik nicht nur proportional zur Abnabelung von der einstigen Schutzmacht steigen werden, sondern auch eine eigene strategische Konzeption entwickelt werden muss. Genau darüber sprach die neue Ministerin nicht und gerade dafür bekam sie viel Lob von denen, die sie als Frau schmähten. Fassen wir das als weiteres Testat über den gegenwärtigen Geisteszustand der Republik, denn zu mehr taugt es nicht.

Während die selbst ernannten Wächterinnen und Wächter der öffentlichen Moral demonstrierten, dass sie zur Analyse der globalen Politik weniger taugen als zur Aktivierung verstaubter Vorurteile, sollten wir zumindest die Courage der Hauptperson honorieren, die soeben dabei ist, ohne große Deklamationen mehr für die Frauenemanzipation zu tun als das gesamte feministische Feuilleton.