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Im Zeichen der Tragödie

Die Nerven liegen blank. Je näher die Europawahl rückt, desto größer der Aufwand, um mit Feindbildern und daraus resultierenden Ängsten zu operieren. Das betrifft nahezu alle, die sich in den Wettbewerb um Mandate begeben. Das Resultat wird von Tag zu Tag deprimierender. Kaum jemand kann befriedigend beantworten, ob es noch um etwas Positives gehen könnte. Die Phantasie besteht zumeist nur noch aus Verhinderungsszenarien. Wie kann verhindert werden, dass dunkle Mächte die Regie in Europa übernehmen oder behalten. Bei aller Diffusion, die in der Vorstellung über die jetzigen, bestehenden Verhältnisse herrscht, klingt das sehr verwegen. Wenn das Gegenwärtige bereits wabernden Nebeln gleicht, warum dann die kommende Nacht noch fürchten? So, wie es aussieht, sind die Strategien zur bevorstehenden Wahl ein Desaster.

Es ist immer dasselbe und es scheint, als sei es die Krankheit unserer Zeit. Niemand findet mehr den Mut, konkret über das zu sprechen, was als Vision für die Zukunft gelten könnte. Stattdessen wird mit erhobenem Zeigefinger gefordert, wir bräuchten mehr von dem, wovon die meisten nicht wissen, was es ist. Oder es wird geschmettert, so dürfe es nicht weitergehen, ohne zu präzisieren, wie es denn dann aussehen soll. Europa und seine Konnotationen ist zu einem Phantom verkommen, das diffuse Gefühle mobilisiert, aber den klaren Verstand außen vor lässt.

Wer leugnet, dass sich die Teile eines Ganzen, vor allem, wenn es sich um soziale Systeme handelt, zunächst darüber verständigen müssen, worin die eigene Identität, die eigenen Interessen und die eigenen Visionen liegen, der hat die Basis gesellschaftlichen Handelns ausgeblendet. Um was es dann noch geht, hat mit den einzelnen Gliedern nicht mehr viel zu tun. Die erwähnten Fragen jedoch müssten im Zentrum dessen liegen, um das es geht. Ein Weiter so! ohne Klarheit kann und wird es nicht geben.

Und erst wenn die Teile wissen, was sie wollen, können sie darüber verhandeln, worin die Gemeinsamkeiten bestehen. Das betrifft dann alle, und vor allem nicht jene, die im Nirvana einer sich seit langem verselbständigten Bürokratie ihre geliebte Eigendynamik fortgesetzt sehen wollen.

Da das alles nicht stattfindet, könnte zur Beschreibung der Lage der Begriff der Tragödie bemüht werden. Egal, was passieren wird, egal, welche Option gezogen wird, es läuft auf ein Desaster hinaus. Das muss sich nicht am Wahlabend herausstellen, aber es wird einen Prozess beschleunigen, der irgendwann allerdings an dem Punkt ankommt, dass die Alternativen wieder klar werden. Und dann wird dort stehen, dass es so wirklich nicht mehr weitergeht. Und dann wird daraus resultieren, dass Tabula rasa gemacht werden muss. Und dass dann doch die einzelnen sozialen Systeme darüber befinden werden müssen, wer sie sind, wohin sie wollen und ob es einen gemeinsamen Weg geben wird. 

Bei den Erscheinungen, die täglich als Vorbereitung auf die Europawahlen von allen Seiten zu sehen sind, muss davon ausgegangen werden, dass der Prozess noch etwas dauern wird. Er wird schmerzhaft sein, er wird Kämpfe hervorbringen, die alles andere als schön sein werden. Und an seinem Ende wird es vielleicht so sein wie zur Neige des Dreißigjährigen Krieges: Alle sind erschöpft und ihnen ist die Lust auf Dominanz vergangen. Ob das dann zu einem neuen Anfang führen können wird, ist nicht garantiert. Auf dem Globus spielen noch andere Mächte eine Rolle, die in der Zwischenzeit nicht ruhen werden.

Der Doppelcharakter der Identität

Ein großes Problem, das den Menschen in der modernen, globalisierten Massengesellschaft attestiert wird, ist der Verlust an Identität. Wie auch, die Individualisierung, einst als das Glück der bürgerlichen Gesellschaft per se ausgerufen, hat sich so rasant entwickelt, dass das einzelne Individuum einem ganzen Kosmos sozialer Verstrickungen gegenübersieht, der unübersichtlich und nicht mehr beherrschbar erscheint. Identität, im Sinne einer kollektiven Erfahrung der Zugehörigkeit, scheint eine Erinnerung an die Vergangenheit zu sein. Kein Wunder also, dass sich immer mehr Menschen Bewegungen anschließen, die mit dem Versprechen auf dem Weg sind, alte Identitäten zu restaurieren oder neue zu schaffen. 

Identität an sich ist ein dem Menschen mit seiner sozialen Disposition innewohnendes Bedürfnis. Sie verschafft Sicherheit. Wer über eine gesicherte Identität verfügt, der kann den Zweifel an seiner eigenen Existenz unter Kontrolle halten und sich gesellschaftlich gewiss sein, nicht alleine zu stehen. Das ist eine Garantie gegen die Urangst des Homo sapiens, in der Verlorenheit einer komplexen Welt zu vergehen. Diese anthropologische Erkenntnis ist nicht neu und geht auch zurück in gesellschaftliche Episoden der Geschichte, die weitaus übersichtlicher waren als die heutige. 

Identität als kollektive Erfahrung hat jedoch einen Doppelcharakter, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Indem Menschen sich gemeinsam zu einer Identität bekennen, müssen sie, ob sie wollen oder nicht, sich von anderen, bereits existierenden anderen Identitäten abgrenzen. Die große und bisher auch verheerende Lektion in diesem Prozess in der jüngeren Geschichte war die Herausbildung der Nationalstaaten. Das Ergebnis waren Sinn stiftende und florierende Prozesse nach innen, aber auch Abgrenzungen und Verhärtungen nach außen. Einfach gesprochen: wir sind nicht so wie die anderen. Das konnte kulminieren bis hin zum Erzfeind, mit dem immer wieder Kriege geführt wurden. Identität als Faktor der Aggression nach außen ist ebenso eine historische Konstante.

Es ist genau darauf zu achten, welche Art von Angeboten diejenigen machen, die bezeugen, an Identitäten zu arbeiten. Die Frage lässt sich relativ schnell beantworten, ob sie dazu dienen, handlungsfähige Existenzen zu bilden, die mit sich im Reinen sind und an einem zivilen friedlichen Projekt arbeiten, oder ob es ihnen um die Aggression nach außen geht, um Feindbildung schlechthin. Vieles von dem, was momentan auf dem Markt der zu findenden Identitäten zu beobachten ist, entspricht diesem Zweck. Solcherlei Identitäten führen in die Irre, sie dienen dazu, größere Projekte der Zerstörung zu befeuern und nicht, den Menschen die Sicherheit zu geben, um ihr Leben aus einer inneren Sicherheit heraus zivil und konstruktiv zu gestalten.

Insofern ist es geraten, das Bedürfnis nach Identität nicht zu verdammen, weil Anbieter unterwegs sind, die dem Ansinnen folgen, die Basis für Aggressionen zu schaffen. Wichtig scheint zu sein, sich der Aufgabe zu stellen und an Identitäten zu arbeiten, die Gemeinschaft herstellen, aber sich darauf konzentrieren, sie unter eine positive Vision zu stellen, die ohne Feindbilder auskommt. Auch dort wird es ohne Ausgrenzung nicht gehen, weil sie das Makel einer jeglichen Identität ist, der besagte Doppelcharakter. 

Eine positive Identität, die sich auf friedliche Interaktion, auf Respekt und Selbstbestimmung fokussiert, hätte quasi nur ein einziges Feindbild. Das wären diejenigen, die sich dieser zivilen Vision entgegenstellen, weil sie andere Interessen haben, und zwar die der Aggression. Mit einer solchen Ausgrenzung lässt sich allerdings leben. Oder nicht?

An der Zeit, den Kopf zu heben

Bei einer soziologisch-historischen Studie der amerikanischen Präsidenten, die vor einigen Jahren bereits erschien, kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen den verschiedenen Präsidenten gegeben hat. Entweder, sie stammten vom Land, d.h. aus der Provinz, oder sie waren in den Metropolen sozialisiert. Diejenigen aus der Provinz waren ausgerechnet jene, die mit einer Vision in ihr Amt gingen, und die, die in den Metropolen bereits sozialisiert waren, galten als die Pragmatiker. Logisch ist der Ansatz. Denn wer im Kornfeld steht und bis zum Horizont schaut, dem ist es vergönnt, sich Gedanken über das Große und Ganze zu machen, und wer in den Gängen der Lobby groß wird, der ist mit den täglichen kleinen Deals beschäftigt.

Nun wäre es erforderlich, die ganzen Kolonnen der Politiker, mit denen wir es zu tun haben, zu durchleuchten und die Studien auszuweiten und durchzuführen. Die These für Deutschland unerforscht 1:1 zu übernehmen ist gewagt, und vielleicht trifft sie hier überhaupt nicht zu. Sicher ist nur, zumindest aus meiner Sicht, dass Politik generell zunehmend drunter leidet, ohne Vision, ohne Programm und ohne Strategie kommuniziert und vollzogen zu werden. Es ist eine heikle, ja nahezu irre Frage, ob Politik ohne eine Vision am Horizont auskommen kann. Deutlich ist, dass eine solche Vision fast vollständig fehlt. Es ist nicht unbedingt der Nachweis, dass Politik ohne großen Kurs überleben kann, sondern legt die These nahe, dass die große Krise, in der sich Politik befindet, in der Tatsache der Perspektivlosigkeit begründet ist.

Gerade darin scheint das Dilemma zu liegen. Politik wird nicht mehr begründet mit einem größeren Ziel, sondern mit einem irgendwie vorhandenen Ansatz und einem Anflug von Alltagsräson. Es klingt absurd, aber genau das ist in einem Land wie Deutschland, in dem es immer um das große System und das Prinzip geht, zu wenig. Wenn der von dem Historiker Heinrich August Winkler so beschworene lange Weg nach Westen darin bestanden hat, sich abzugewöhnen, die große Perspektive zu entwickeln und dem zwanghaften Versuch, den durchaus probaten, aber kulturell eben anders sozialisierten angelsächsischen Pragmatismus zu kopieren, dann ist dieses Unterfangen in einen unbefriedigenden Zustand gemündet.

Das letzte Relikt eines großen Plans ist das ständige Pochen auf den bei uns zumindest noch aufgeschrieben vorhandenen Wertekodex. Vertreter der angelsächsischen Blaupause dafür würden sich hüten, bei der Wahrung ihrer Interessen darauf zu verweisen, weil sowohl das einstige britische wie das heute amerikanische Imperium wussten, dass es Dinge gibt, die man tun muss, um die Macht zu erhalten, die sich aber nicht eignen, um in den Annalen der Systementwicklung zu erscheinen.

Stattdessen summt die deutsche Politik nahezu gemeinsam, aber zumindest im Kanon die Weise von den Werten, und macht dabei alles, was diesen nicht entspricht. Sie sieht dabei nicht, dass die eigene Glaubwürdigkeit hier darunter leidet und die Werte dort, wo sich nicht gelten, jeglichen Ruf verlieren. Die Konsequenz ist eine täglich gelebte Doppelmoral, die zu der Krise führt, in der wir uns befinden. 

Es ist an der Zeit, sich wieder mit großen Visionen zu beschäftigen, um einen Maßstab zu fertigen, an dem sich Politik messen lassen kann. Das muss nicht in Dogmatismus enden, aber es würde dazu erziehen, den Kopf zu heben und bis zum Horizont zu blicken.