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Nur Fußball? Klasse und Verein!

Gerade heute fiel mir, aus aktuellem Anlass, wie es so oft heißt, wieder eine Szene ein, die ich vor vielen Jahren erlebte, quasi am Beginn meiner Reise durchs Leben. Als ich mich von Freunden und Bekannten verabschiedete, um zunächst einmal zu studieren und nicht im benachbarten Umland, sondern weiter weg, nahm mich ein Bergmann, der noch unter Tage arbeitete, beiseite, sah mir tief in die Augen und sagte: „Egal, wohin du gehst, egal was du machst, eines darfst du nicht tun: du darfst nie deine Klasse und nie deinen Verein verraten!“ Ich wusste sofort, was er meinte, denn der Klassenbegriff war im damaligen Ruhrgebiet noch sehr eindeutig und der Verein war eng mit ihm verbunden, denn der Fußball, der dort gespielt wurde, hatte sehr viel mit dem Alltag dieser Klasse zu tun. Dass das mit der Klasse in meinem Fall nicht so eindeutig war, wusste ich bereits zum Zeitpunkt des Rates. Ich deutete es so, dass die Menschen, das Milieu, in dem ich aufgewachsen war, so etwas darstellten wie meine Klasse. Dazu gehörten Bergleute, kleine Kaufleute, Bauern und auch der eine oder andere skurrile Intellektuelle. Und mein Verein, den hatte ich schon, und der entsprach 1:1 den Vorstellungen des Bergmanns.

Nun, mein Leben verlief bis dato sehr abwechslungsreich und ich erlebte viele unterschiedliche soziale Milieus auf verschiedenen Kontinenten und auch noch ganz andere Vereine als die, die ich in meiner Region kennengelernt hatte. Nicht, dass ich den damaligen Rat des Bergmanns mir so zu Herzen genommen hätte, wie er es mir nahegelegt hatte. Das musste ich nämlich gar nicht, denn irgendwie gehörte die Devise sowieso zu meinem Kompass. Die Menschen, die mir alles gegeben hatten, um das werden zu können, was ich wollte, die konnte und wollte ich nie vergessen und der Verein, mit dem ich groß geworden war, der hatte mich, auch wenn ich mir das anders gewünscht hätte, sehr intensiv gelehrt, wie man mit Niederlagen umgeht und wann Loyalität wichtiger ist als alles andere. 

Nun, das ist kein Plädoyer für ständiges Verharren, für die Negation des Wandels und eine seichte Romantik. Nein. Es geht um ein Prinzip. Es ist das Prinzip, das sich aus einer gewissen Dankbarkeit und Zugehörigkeit speist und sich dem Ansinnen flüchtiger Opportunität verweigert.  Der Geist, der dem damaligen Ruhrgebiet und seinen Formulierungen von Moral entsprach, speiste sich aus sehr konkreten Vorstellungen von Verlässlichkeit. Keine Frage, wenn die nicht gegeben war, dann spielten die da unten, unter Tage, mit ihrem Leben. Im Ruhrgebiet durftest du alles machen, wenn du nur verlässlich warst. Und keine deiner Taten glänzte, mochten sie auch noch so gekonnt sein, wenn sie den Beigeschmack der Unzuverlässigkeit hatten.

Ich selbst denke noch heute, Jahrzehnte nach diesem Rat des Bergmanns, immer wieder an ihn. Die Frage, die sein Rat aufwirft, hat mich in unzähligen Lebenssituationen immer wieder begleitet. Ist die Entscheidung, die du jetzt treffen musst, so etwas wie ein Verrat an denen und dem,  was dich geprägt hat? Ich, für meinen bescheidenen Teil, habe mich nie verbiegen müssen. Ich habe diesen Verrat nie begangen, obwohl ich vieles in meinem Leben verändern musste, obwohl ich mit Menschen und Organisationen gebrochen habe und mit so mancher Rebellion nicht nur angenehme Situationen hinterlassen habe. Aber meine Klasse und mein Verein? Mit denen bin ich immer noch im Reinen!