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Zeitgenössische Seuchen

Das Wesen von Propaganda ist anhand zahlreicher und anschaulicher Beispiele in der letzten Zeit immer deutlicher geworden. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich Propaganda über sehr einfache Prinzipien darstellt. Es geht darum, komplexe Zusammenhänge auf einfache Erklärungsmuster zu reduzieren und mit dieser Reduzierung eine Emotionalisierung zu erreichen. Dort, wo das dumpfe Gefühl vorherrscht, hat der Verstand in der Regel keine Chance. Es scheint logisch zu sein, dass in Zeiten, in denen Propaganda greifen kann, eine bestimmte Geisteshaltung dominiert, die für die Vereinfachung empfänglich ist. Und es stellt sich heraus, dass nicht die Formen von Propaganda es sind, die beunruhigen müssen, sondern die Geisteshaltung, die Propaganda erfolgreich macht.

Die Vorbedingung für erfolgreiche Propaganda ist der Populismus. Letzterer ist das sich immer mehr etablierende Erklärungssystem, das die Gesellschaft zunehmend durchdringt, den politischen Diskurs zerstört und eine Destabilisierung der Gesellschaft zur Folge hat. Es ist wenig verwunderlich, dass der Populismus ähnlichen Konstitutionsprinzipien unterliegt wie die Propaganda. Im Wesentlichen zeichnet sich der Populismus aus durch die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, durch eine große Portion Anti-Intellektualismus und durch emotional gesteuerte Polarisierung. Dient die Propaganda der Vermittlung ideologischer Vereinfachung, so ist der Populismus selbst ein rhetorisches Modell, das vor der Vermittlung steht.

Es sind unterschiedliche Verhältnisse, die Populismus und Propaganda ermöglichen. Eine wichtige Voraussetzung für beide ist die bei den Empfängern fehlende Voraussetzung im Umgang mit komplexen Botschaften. Komplexe Botschaften oder Phänomene verursachen Unsicherheit und Ängste bei jenen, die nicht gelernt haben, Komplexität zu dechiffrieren. Wer das politische System, in dem er sich bewegt nicht mehr kennt, dem die Rolle und Funktion seiner Institutionen fremd ist und ihren Zweck nicht mehr identifizieren kann, dem fällt es schwer, strukturiert mit Komplexität umzugehen.

Die Ursachen für diese fehlende Befähigung sind vor allem in zwei Versäumnissen zu finden. Zum einen hat das Ende der systemisch bipolaren Welt dazu geführt, dass es als unwichtig erachtet wurde, die Kenntnisse über das eigene politische System und seine Funktionalität weiterhin zu vermitteln. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes hielt es der Westen nicht mehr für erforderlich, politische Bildung an die nachwachsenden Generationen weiterhin zu vermitteln.

Die zweite Ursache manifestiert sich in der Existenz der Entmündigung. Sie kam nicht durch einen despotischen Akt zustande, sondern durch eine falsch verstandene Versorgungsideologie. Den Subjekten der Res publica wurde suggeriert, dass sie sich der Mühsal der eigenen Einmischung und Verantwortung durch Delegation entziehen könnten. Daraus entstand die Konstellation einer Stellvertreter-Demokratie, die versprach, schon alles demokratisch zu regeln, was zu regeln war. Das gemütliche Fahrwasser, das letztendlich in den demokratischen Institutionen Ensembles etablierte, die anstatt der aktiven Bürgerschaft die Geschäfte exklusiv, ohne laufende Kontrolle führten, hatte den Wandel des demokratischen Ur-Subjektes zu einem verwalteten, entmündigten Objekt zur Folge, welches heute in einem Zustand erwacht, der es nicht mehr ohne weiteres ermöglicht, die ursprünglich zugedachte Rolle zu erfüllen.

Darunter hat nicht nur die Möglichkeit einer laufende Kontrolle der demokratischen Prozesse gelitten, sondern es hat auch zu einer wachsenden Abstinenz bei der Delegation von demokratischer Verantwortung geführt. Die entsetzlich sinkende Wahlbeteiligung hat harte Gründe, und sie ist mit einer Beschimpfung derer, die von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen, nicht zu kompensieren. Es sind längere Entwicklungen, die der Seuche des Populismus den Weg bereitet haben. Seuchen zu bekämpfen ist ein Unterfangen, das lang und beschwerlich ist. Dieser Kampf erfordert konkrete Maßnahmen im akuten Fall, aber noch wichtiger ist es, die Herde zu bekämpfen. Das dauert und erfordert langen Atem.