Schlagwort-Archive: Verdrängung

Wir müssen reden!

Vor einigen Tagen las ich einen Artikel einer Ukrainerin, den sie damit begann, die allgegenwärtigen ukrainischen Farben im deutschen Alltagsleben nicht mehr ertragen zu können.  Sie erklärte es auch. Die Lage in ihrem Land, unter der sie selbst auch familiär leidet, ist komplexer als das in Deutschland massenhaft publizierte Bild vermuten lässt. Sie wies auf vieles  hin, was bei der Berichterstattung in Deutschland keinen Eingang findet. Die Fragwürdigkeit der Regierung Selensky, deren brutales Vorgehen gegen die russische Bevölkerung im Donbas, die momentane Hochrüstung rechtsradikaler Verbände, die Herausbildung von Berufssoldaten, die sich in keinem zivilen Leben mehr werden einfügen können,  die unbegrenzte Verfügbarkeit von Waffen, die schon vor der russischen Aggression bedenkliche Beeinflussbarkeit der Justiz, Methoden der Folter auf ukrainischer Seite – das alles seien Faktoren, die zu berücksichtigen seien, wenn es um eine wie auch immer geartete Zukunft des Landes ginge. Den Überfall Russlands beschönigte sie indessen nicht, sie machte sich nur, quasi als Gegenzeichnung zu einem hier vermittelten Bild, bei dem zunehmend auch von der Möglichkeit eines „Sieges“ gesprochen werde,  was sie für eine gefährliche Wahnvorstellung hielt, Gedanken über eine mögliche Zukunft. Die, so schloss sie, sei mit der im Westen produzierten Darstellung der Verhältnisse ausgeschlossen.

Es ist nicht nur das Thema Ukraine, das mich dabei inspirierte, sondern die Fähigkeit der Deutschen, in kurzer Zeit und auf große Distanz gleich im Bilde darüber zu sein, was in anderen Ländern und Kulturen geschieht. Das brachte einmal ein sein ganzes Leben für die Bundesrepublik in allen möglichen Ländern unterwegs gewesener technischer Berater auf den Punkt, den ich fragte, wie nach all den Jahren, die er in fremden Ländern gelebt habe, sein Verhältnis zu Deutschland sei. Es sei, so antwortete er ohne zu zögern, ein schönes, wohl organisiertes Land, in dem sich gut leben ließe. Nur eines täte er, wenn er hier sei, nicht mehr: er ginge auf keine Partys oder Feste mehr. Denn dort, wenn er gefragt würde, wo er gerade lebe und arbeite, fänden sich immer gleich einige, die ihm nach einem zweiwöchigen Urlaub in dem betreffenden Land alles erklären könnten und ihm noch Tipps gäben, wie er am besten seinen Job mache. Das sei für ihn kaum zu ertragen.

Ich selbst kenne dieses Phänomen auch und wir alle haben es in den letzten beiden großen Krisen erlebt. Bei Corona mutierte das Volk in Sekundenschnelle zu medizinischem Fachpersonal und seit dem Ukraine-Krieg sind alle versierte Politologen mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Positiv betrachtet, handelt es sich dabei um ein großes Interesse zu den Fragen der Zeit. Was nachdenklich stimmt, ist diese unheimliche Fähigkeit, mit geringem Aufwand eine Expertise zu erreichen, für die andere Menschen ein ganzes Leben brauchen. 

Aber vielleicht verbirgt sich dahinter etwas ganz anderes. Wer sich schnell auf etwas fokussiert, das außerhalb der eigenen Problemlagen stattfindet, kann besagte kritische Felder wunderbar ausblenden. Psychisch kann auf dem Alibi-Feld alles ausgetragen werden, was emotional herausmuss, und trotzdem bleibt die Arbeit an den eigenen Defiziten erspart. In der Psychologie korrespondieren mit diesen Verhaltensweisen die Begriffe der Verdrängung und der Übersprungshandlung. 

Das Fazit der Betrachtung ist der wenig emphatische Schluss, dass es sich bei der Schlaumeierei gegenüber fremden Angelegenheiten um den Versuch handelt, die eigene Unzulänglichkeit auszublenden. Glücklicherweise gibt es dazu eine Formulierung, die gute Freunde benutzen, wenn sich auf ein solches Phänomen stoßen. Sie lautet: Wir müssen reden!

Die USA und die Arroganz aus der Provinz

Es ist ein Debakel. Während in den USA noch ausgezählt wird, senden die Musterschüler der Demokratie aus dem fernen Deutschland Ratschläge in alle Welt. Das tut der Seele gut, hat aber mit den Geschehnissen jenseits des Atlantiks wenig zu tun. Was noch fehlt, und in bestimmten Publikationen bereits kolportiert wird, ist, dass die hiesigen Welterklärer mit Sanktionen drohen. Da ist etwas gewaltig schief gelaufen mit der Selbsteinschätzung. Dass die amerikanischen Verhältnisse unübersichtlich sind, hängt nicht mit den dortigen Wahlgesetzen zusammen, sondern mit der tiefen Spaltung des Landes und der Vorstellung neokonservativer Kreise, im Notfall auch putschen zu können. Diese Rechnung haben sie jedoch ohne den Wirt gemacht. Und dieser Wirt sitzt in den USA selbst, dazu braucht es keine Belehrungen aus einem Land, das selbst bis dato nur einen Hauch von der Spaltung verspürt, die auch hier noch mit ganz anderer Wucht durchschlagen wird. 

Woher kommt der Übermut? Durch eine gute Regierungsführung? Durch intelligente Lösungen? Durch reflektierte Überlegung ob der eigenen Position? Oder ist es das alte, nahezu archaische Missverständnis, dass Welterklärung auch ohne Kenntnis der kritisierten Verhältnisse geht? Eine Konstante scheint es zu geben im hiesigen Charakter. Es ist die Selbstüberschätzung, die, wenn es heikel wird, in einem ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex endet. Wie wäre es, so die Frage, wenn einmal das geschähe, was ein früherer Bundeskanzler so volkstümlich aber treffend als das Machen der eigenen Hausaufgaben charakterisierte?

In den letzten Tagen waren immer wieder und überall Bemerkungen zu hören, die darauf abzielten,  die amerikanischen Wahlgesetze zu kritisieren, den dortigen Mangel einer freien Presse zu bemängeln, den dortigen Verlust demokratischer Werte zu reklamieren und die Unwissenheit der Bevölkerung festzustellen. Wie kann es sein, dass der Spiegel, aus dem diese Schriften zu entziffern sind, nicht als das Abbild eigener Defizite erkannt wird? Wie heißt es noch in einer der Urschriften des Okzidents? Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein.

Letzteres, übrigens eine Erkenntnis, die als Grundlage jeder Zivilisation Geltung hat, scheint in dem gewaltigen, rigorosen und alle Traumata überlagernden Verdrängungsprozess aus dem Bewusstsein gepresst worden zu sein. Da sind die Verhältnisse außer Rand und Band geraten. Um dies festzustellen, muss die eigene Geschichte des XX. Jahrhunderts erst gar nicht bemüht zu werden. Da reicht es, auf das Hier und Jetzt zu schauen, um festzustellen, dass es dringend von Nöten ist, die eigenen Verhältnisse in Ordnung zu bringen. 

Die hiesige Regierungsführung spaltet das Land mehr und mehr, statt an intelligenten Lösungen zu arbeiten, werden die tradierten Muster konserviert, die eigene Position unterliegt einer maßlosen Selbstüberschätzung und von einer freien Presse berichtet allenfalls die Funke-Medien-Gruppe. Welche Arroganz macht sich da breit, denen, die sich in den USA in einem ungeheuren Strukturwandel befinden, Ratschläge zu geben? 

Es handelt sich um Manöver, die von der eigenen Ideenlosigkeit ablenken, die ein gutes Gefühl vermitteln sollen, um nur nicht auf den Gedanken verfallen zu müssen, aus der eigenen Komfortzone heraus zu müssen, um die eigenen Verhältnisse so zu gestalten, dass die Probleme, vor denen wir stehen, gelöst werden. Der allerletzte Ratgeber, den eine Welt braucht, um Wege in eine neue Ordnung zu finden, ist die Arroganz aus der Provinz. 

Stalingrad und seine Traumata

Einige unter uns haben es noch erlebt. Da wurde plötzlich auf der Straße geflüstert, wenn ein Mann vorbeikam, vielleicht mit einem mürrischen Gesicht, vielleicht gebeugt oder durch irreparable Verletzungen gekennzeichnet. Dann steckten die Erwachsenen die Köpfe zusammen und raunten sich etwas zu, das immer so klang wie Stalingrad. Diejenigen der Soldaten, die es jemals von der Schlacht um Stalingrad zurück nach Deutschland, in ihre Heimat, schafften, hatten nicht nur an einem der größten Gemetzel der neueren Militärgeschichte teilgenommen, sondern sie waren auch noch durch die Hölle der russischen Kriegsgefangenschaft gegangen, durch eisige Gulags, durch brennenden Hunger und endlose Hoffnungslosigkeit. Und für alle, die zurück geblieben waren, wurde der Name Stalingrad zum Synonym für die ganze Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges. Die wenigen, die zurückkamen, nährten diesen Superlativ noch mit Geschichten, die das Unvorstellbare zur Normalität machten.

Die Stalingradkämpfer der deutschen Wehrmacht waren mehrheitlich dort gelandet, um den Zugriff der Nazis auf das russische Öl zu sichern. Das taten sie nicht aus Überzeugung, sondern weil sie Soldaten waren und dem Kriegsrecht unterstanden. Das Ungerechte an solchen Situationen ist der Doppelcharakter solcher Missionen: Die dort landeten, um zu morden und gemordet zu werden, waren zu einem Großteil nicht dort, weil sie es so wollten. Sie wollten auch nicht das Öl. Sie waren dort, weil andere das Öl wollten, die sogar bereit waren, ihre Armee diesem Ziel zu opfern. Diejenigen, die von dieser wahnwitzigen Mission zurückkehrten, wurden dann nur noch als schlechtes Omen wahrgenommen. Ihr Heldentum, nämlich dass sie überhaupt überlebt hatten, ging unter in dem Trauma, sich insgesamt an einem Unternehmen beteiligt zu haben, das sich als eines der furchtbarsten der Geschichte herausstellen sollte. Die Helden waren keine Helden, und da das alles so schrecklich war, wurde das Heldentum schlechthin gleich mit abgeschafft.

Direkt nach dem Krieg frönten Nachbarn, die gehörig unter dem Größenwahn der Deutschen gelitten hatten, dass die Verlierer des großen Krieges die eigentlichen Gewinner seien. Sie hatten dabei das so genannte deutsche Wirtschaftswunder im Auge und die großzügige Hilfe vor allem der USA. Was weder die Nachbarn noch die USA zu jenem Zeitpunkt identifizieren konnten, war der Grad der Traumatisierung des gesamten Volkes. Vieles, was woanders normal ist, ist hier nicht mehr zu etablieren und alles, was nicht auf dem Diagnosebogen steht, ist suspekt bis zum akuten Ausbruch. Daraus lässt sich vielleicht erklären, dass die bloße Pose ausreicht, um als mutig zu gelten, dass dagegen die konsequente Verfolgung von Zielen, die als richtig und gerecht angesehen werden, schon nicht mehr ausgehalten und als Gewalt per se diskreditiert wird. Positive Identifikationsmuster sind ebenso suspekt wie pragmatisches Denken. Ersteren haftet das Aroma der ideologischen Verführung an, letzterem fehlt die moralische Legitimation.

Weit nach der Rückkehr der wenigen Stalingradkämpfer ist das immer noch so. Dem Trauma folgte die Verdrängung, der Verdrängung die Rebellion. Letztere war nie so richtig reflektiert. Wie anders könnte es sein, dass die Kinder derer, die rebelliert haben, derartig affirmativ mit dem erlittenen Trauma umgehen. Da simulieren Kerngesunde eine Krankheit und fühlen sich dabei auch noch gut und moralisch im Recht. Ein derartiges pädagogisches Fiasko muss erst einmal gelingen! Dafür ist in Stalingrad niemand gestorben! Auf keiner Seite der Front!