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Verblendung

Wenn reklamiert werden muss, dass der Streit die vitale Quelle der Erkenntnis ist, dann beschreibt das auch die Verhältnisse, wie sie sich im Moment gestalten. Gegenwärtig haben sich zumindest die politischen Entscheider auf eine Position manövriert, die jede Form von Widerspruch als das gesamte System gefährdend diskreditiert. Mehr und mehr werden die eigenen Standpunkte zu einem absolutistischen Menetekel, das nichts mehr neben sich duldet. Vor einem größeren historischen Muster betrachtet handelt es sich dabei um eine Blickverengung, einhergehend mit einem dogmatischen Rigorismus, der typisch ist für Situationen, in denen die Lage kippen wird. Damit ist eine Form der Bewegung gemeint, die blitzschnell eine relative Ruhe in einen Zustand rascher Veränderung verwandeln kann. Was das bringen wird, steht in den Sternen. Was es nicht bringen wird, ist bereits sicher. Vieles von dem, was als die alte Normalität bezeichnet wird, wird sich nicht mehr einstellen.

Wie immer ist es, zumindest an dieser Stelle, von besonderem Interesse, wie die Panik und die Verhärtung, die sich in der politischen Nomenklatura in den letzten Jahren breit gemacht hat, auf die Gesellschaft wirkt. Was das alles, d.h. die wachsende Unfähigkeit, in einer argumentativen Auseinandersetzung mit Widerspruch umzugehen und stattdessen verstärkt auf Diskriminierung und Ausgrenzung zu setzen, in den Köpfen derer bewirkt hat, die so gerne euphemistisch als Zivilgesellschaft bezeichnet werden, ist von seiner politischen Stoßrichtung noch nicht ausgemacht. Was jedoch bereits jetzt überdeutlich wird, ist die Abwendung großer Teile der Gesellschaft von dem, was als das politische System bezeichnet wird.

Die Akteure in Verantwortung bemerken dieses deutlich, nur sind sie anscheinend nicht dazu in der Lage, zu erkennen, dass das eigene Verhalten dazu beigetragen hat. Diskriminierung anzuprangern, indem man selbst diskriminiert, Ausgrenzung zu bemängeln, indem man selbst ausgrenzt, Populismus zu geißeln, indem man selbst in populistischen Vorgehensweisen schwelgt – das alles hat nicht dazu beigetragen, die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft zu überwinden. Täglich finden sich Beispiele, die belegen, dass die politisch Handelnden, die sich in einer Echokammer befinden und die durch die Medienstruktur abgesichert ist, keinen Reflex auf das eigene Vorgehen mehr erhalten. Sie fühlen sich nicht nur im Recht, was man ihnen zugestehen kann, aber sie sind auch davon überzeugt, das die Feinde der Demokratie woanders auszumachen sind. Das ist der Fehlschluss, der die Verhältnisse zum Tanzen bringen wird.  

In vielen Punkten wird das eigene Handeln mit einer Umschreibung begründet, die von Margaret Thatcher, der ersten europäischen Ikone des Neoliberalismus, bereits in den 1980er Jahren geprägt wurde: alternativlos. Gerade die jetzige Regierung hat sich immer wieder des Begriffes bemächtigt und damit die eigene Entfernung von einem demokratischen Prozess beschrieben. Und die Verblendung, die daraus resultiert, mündet, bleiben wir in der Aktualität, in Maximen, die da lauten, wir hören auf die Wissenschaft. Dass mit „der“ Wissenschaft eine Handvoll Virologen und Epidemiologen gemeint sind, ist hinlänglich bekannt, dass damit weder Soziologen noch Volkswirte, weder Psychologen noch Kulturwissenschaftler, weder Kriminologen noch Pädagogen gemeint sind, hat sich bereits herausgestellt und ist eine weitere Bestätigung für die stattgefunde Verengung. Die eigne Begrenzung auf ein überschaubares Handlungsspektrum wird als Abbild der komplexen Welt missverstanden.

Alternativlos scheint hingegen nur eines zu sein: Der Abschied von einer Politik der Ignoranz und Verhärtung und die Orientierung auf den Streit um räsonable Alternativen gesellschaftlichen Handelns.

Das Dramatische ist die Verblendung

Ein Bekannter, der sich in den letzten Monaten in verschiedenen asiatischen Ländern aufgehalten hatte, schilderte seine Eindrücke über die Berichterstattung der Ereignisse, die sich hier in Europa zutrügen. Das schlimmste, was er in den dortigen Medien erlebt habe, seien die Berichte über die französischen Polizeieinsätze gegen die eigene Bevölkerung gewesen. Immer wieder sei er gefragt worden, was denn in Europa bloß los sei, dass eine Regierung dermaßen ungezügelt gegen das Volk vorgehe. Und tatsächlich hätten die Bilder, die er dort gesehen hätte, dieses Entsetzen unterstützt. 

Ich frage mich, was das geschilderte Szenario wohl bei denen auslösen würde, die sich  momentan im Europawahlkampf befinden? Bei den Mitgliedern der Regierung bin ich mir ziemlich sicher. Sie hätten sehr schnell Begriffe wie Fake News im Mund und würden versuchen, die großen, massenhaften Proteste gegen eine Politik, die sehr viel mit dem zu tun hat, was die Europaidee bis auf die Grundmauern diskreditiert hat, einfach zu verharmlosen oder gar zu leugnen. Täglich ist zu erleben, wie die Proteste gegen eine Europa zerstörende Politik entweder instrumentalisiert oder ignoriert werden. Gestern war wieder so ein Tag, der den Zweifel über die Unparteilichkeit der Medien ausräumte: Während die Demonstrationen in Großbritannien für den Verbleib in der EU großen Raum einnahmen, fand der Militäreinsatz in Paris gegen die seit Monaten anhaltenden Massenproteste kaum Beachtung.

Einmal abgesehen davon, dass der Brexit auch eine Reaktion auf eine europäische Politik ist, die vor allem darauf ausgerichtet war, die militärisch-industriellen Komplexe in Deutschland und Frankreich wie den Finanzsektor in Großbritannien zu großen Zuwächsen zu verhelfen, während andere Länder und Regionen verarmten, ist das Ausmaß der Proteste gegenwärtig in Großbritannien wie Frankreich im Maßstab zur Nachkriegsentwicklung, also seit 1945, beispiellos. Nie gab es gegen eine Wirtschaftspolitik und deren Auswirkungen derartig massenhafte und nachhaltige Proteste. Wenn man so will, erlebt Frankreich gerade seinen 17. Juni. Und das unter der Regierung eines hierzulande als europäischer Hoffnungsträger titulierten Präsidenten.

In diesem Zusammenhang eine kritische Perspektive als Populismus zu bezeichnen entbehrt nicht einer Dreistigkeit, die gefährliche Züge trägt. Das Dramatische an dieser Denkfigur ist die eigene Verblendung. Da sich die argumentativen Chiffren nie ändern, ist davon auszugehen, dass ein gehöriger Teil der für das Desaster Verantwortlichen sich darauf geeinigt hat, dass die Kritik am Zustand des gegenwärtigen Bündnisses nichts anderes sei als das Werk von Populisten und Demagogen. Und, so hört man täglich aus prominentem Munde, dass zwar vieles kritisch sei, aber längst nicht so kritisch, wie behauptet. Und selbstverständlich liege die Lösung in einem Weitermachen wie bisher, was immer wieder in der Formulierung vom notwendigen Mehr statt Weniger Europa.

Sie sind verblendet und sie sind verbockt und sie wollen auf keinen Fall in die Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand gezogen werden. Deshalb wird dieser beschönigt. Und wie von Zauberhand erscheint plötzlich zunehmend der Begriff der Vereinigten Staaten von Europa auf. Doch das ist etwas anderes als das, was in den letzten Jahren propagiert wurde. Vereinigte Staaten von Europa beinhalten eine klare Linie der Souveränitätszuordnung. Das ist das, was heute wahrscheinlich die große Mehrheit der 500 Millionen Europäerinnen und Europäer wollen. Es ist die letzte Option, die auf dem Tisch liegt. Sie denen zu überlassen, die den jetzigen Zustand zu verantworten haben, wäre unverzeihlich.