Es ist normal, dass im Zustand der Erregung der Anlass der Erregung im Vordergrund steht. Die gegenwärtigen Geschehnisse auf dem Istanbuler Taksim Platz für sich und isoliert betrachtet werfen aus der Außensicht ein ranziges Licht auf die Zustände in der Türkei und suggerieren einen Zustand, der bei näherem Hinschauen allerdings Ursachen zutage fördert, die in in ihrer eigenen Dimension momentan nicht beleuchtet werden. Die Frage, die bei der gegenwärtigen Situation gestellt werden muss, ist nicht die, ob ein Bauprojekt in Istanbul gegen den Willen vieler Anwohner durchgezogen werden soll und darf oder nicht, sondern die, in welchem Zustand die Türkei sich insgesamt befindet und welche politischen Schlüssel verfügbar sind, um ihr zu einer positiven, demokratischen Entwicklung zu verhelfen.
Vor noch gut einem Jahrzehnt bescheinigte die internationale Berichterstattung der Türkei einen alles andere als stabilen Zustand. In vielerlei Hinsicht bekam sie Testate, die der typischen Dauerkrisenkategorisierung entsprachen: Eine instabile Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, ein hohes Maß an Inflation, häufig wechselnde Regierungen, hohe Korruption, vehemente Defizite in der Rechtsstaatlichkeit und eine allgemeine Unberechenbarkeit im internationalen Gefüge. Mit dem Machtantritt der AKP und ihrem Führer Erdogan wandelte sich das Land rasend. Viele der oben aufgeführten Kriterien entwickelten sich zum Besseren. Korruption wurde bekämpft, dem spekulativen Bankwesen ein Ende gesetzt, Arbeitsplätze geschaffen, außenpolitisch wurde maßvoll agiert und hinsichtlich der Bildung und Infrastruktur wurde eine ungeheure Modernisierung eingeleitet. Große Teile der Bevölkerung honorierten in zwei Wahlen dieses Vorgehen, das sich durch einen Spagat zwischen der Besänftigung großer fortschrittsskeptischer Bevölkerungsteile und den Bedürfnissen neuer und moderner urbaner Eliten definierte.
Mit der Etablierung der neuen, aus der AKP rekrutierten politischen Elite wurden die ersten Risse deutlich. Erdogan setzte zunächst auf ein Ablenkungsmanöver in der Außenpolitik, indem er zunehmend im arabischen Raum und in Nordafrika mit der wirtschaftlichen Kraft im Rücken den osmanischen Machtanspruch unterstrich und sich zunehmend aggressiv in internationalen Konflikten zu profilieren suchte. Womit die AKP nicht gerechnet hatte, war die Wucht und Vehemenz, mit der die Modernisierung vor allem in der Mega-Metropole Instanbul einschlug und dort Demokratisierungsbedürfnisse weckte, die auf dem flachen Land keine analoge Relevanz entwickelte.
Das, was als großes Verdienst der Regierung gewertet werden muss, nämlich ein Fingerspitzengefühl für die traditionellen Regionen und Bevölkerungsteile besessen zu haben und diese dadurch von einer fundamentalistischen Entwicklung bewahrt zu haben, scheint sie nicht für die städtische Moderne ausgebildet zu haben. Der fatale und vielleicht tödliche Fehler Erdogans scheint die machtttaktische Einschätzung zu sein, seine Massenbasis gegen die urbanen Eliten ausspielen zu wollen. Auch sie sind das Ergebnis seiner eigenen Politik der Modernisierung und Internationalisierung. Letzteres bedeutet immer eine grundlegende Permissivität der eigenen existierenden politischen Kultur für Trends aus den anderen modernen Metropolen. Austausch findet nicht nur in den Häfen, sondern auch in den Köpfen statt und die Schlussfolgerung kann kein intellektueller Protektionismus sein.
Die Lehre, die die türkischen Machthaber hätten ziehen müssen, liegen vor allem in der Erkenntnis, dass eine Internationalisierung der Verkehrsformen eine Internationalisierung der Kommunikationsstile nach sich ziehen muss. Jetzt, wo der Unmut über die Provinzialität der Kommunikationskultur zum Ausbruch kommt, mit obrigkeitsstaatlicher Gewaltanwendung zu reagieren, ist das beste Dokument für die nicht gelernte Lektion. Was das für die Türkei bedeutet, steht noch aus. Egal, wie sich die nächsten politischen Schritte in der Türkei gestalten, das Grundproblem wird bleiben: Wie kann es gelingen, Traditionalismus und Modernität zu einer Konkordanz zu befördern, ohne die das Land gewaltig zerrissen wird!
