Schlagwort-Archive: Underground

Untergrund

Der physische Untergrund interessiert mich weniger, auch wenn ein Erlebnis wie die Moskauer U-Bahn nicht aus dem Gedächtnis geht. Und schon hält es mich doch, bei dem Thema zu bleiben. Das Wesen der Untergrundbahnen sagt vieles aus über die Orte und Gesellschaften, wo sie errichtet wurden. 

In London kann man in den Schächten immer noch den aufkommenden Industrialismus riechen, jene Mischung aus menschlicher Anstrengung und Müll, aus dem flüchtigen Genuss und dem Tempo. Da beeindruckt es sehr, die innere Ruhe der Fahrgäste zu beobachten. Das Englische, diese so befremdliche Mischung aus Arroganz und Selbstdisziplin, ist bis heute in den Schächten der Underground präsent. Und sie berichtet nicht nur aus vergangenen Zeiten, sondern illustriert in quietschenden Tönen die heutige, bunte Mischung eines residualen Imperiums. Die Deszendenten aus den früheren Kolonien schleichen heute als Bürgerinnen und Bürger der einstigen Weltmetropole durch die Schächte und lesen die Namen wie Regieanweisungen aus einem Lästerstück der Weltgeschichte: Charing Cross, Piccadilly Circus, Knights Bridge.

In New York ist die Sub die Metapher für das schnelle Wachstum, das höllische Tempo und den Pragmatismus der Stadt. Und sie gehört zur Poesie des klassischen Jazz. Wer in New York war und nicht den berühmten A Train benutzt hat, diese Pumpe von Manhattan nach Brooklyn und zurück, das Nadelöhr zweier Welten, die voneinander abhängen und sich bedingen, der hat den Atem des Tiegels nicht verspürt. Transferiert die Londoner Underground trotz aller Eile vor allem das Gefühl von Geduld und Maß, so ist die Sub das gefühlte ungeduldige Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch. Schräg, ungeduldig, hektisch und keine Zeit für gar nichts, die Überlebenseliten in New York haben einen Konsens, da ist für Romantik keine Zeit. Und dennoch, wer unter den wilden Straßen Harlems herfährt, der schließt Pakte, an die er sein Leben lang denken muss.

Wenn es ein Dokument für planerische Weitsicht gibt, dann ist es die Berliner U-Bahn. Die Zwanziger Jahre des XX. Jahrhunderts zählten Berlin zu den kulturellen Metropolen dieser Welt. Der Konnex zwischen Kultur und Stadtplanung wird hier deutlich. Ein Netz, das alles verbindet, das weit über die heißen Pflaster des Zentrums hinausgeht bis in die Birkenwälder Brandenburgs und die an die Ausläufer der norddeutschen Tiefebene. Da waren Planer eines Utopia am Werk, von dem die Stadt heute, nach ihrer verheerenden, wechselvollen Geschichte profitiert, als sei nichts geschehen. Und trotz der planerischen Weitsicht wirkt eine Fahrt mit dem Vehikel vom technischen Standpunkt aus eher beschaulich, wäre da nicht ab und zu die Angst vor dem Kessel oben, an der Oberfläche, der zu bersten droht und seine aggressiven Ingredenzien in die Schächte hinunterspült.

Doch Londons Underground, New Yorks Sub, Berlins U-Bahn und auch die Metro von Paris sind nichts im Vergleich zu dem, was Moskau sich als Zeichen des Fortschritts im Namen eines Gesellschaftsprojektes mit dem Titel Sozialismus gegönnt hat. Es ist ein Tempel, ein Museum, eine Kathedrale. Geformt aus Marmor, mit Reliefs an den Wänden, blitzblanken Zügen und einer sakralen Gesamterscheinung. Auch die Moskowiter rasen wie die Steppenwölfe durch breit angelegten Schächte und für beschauliche Schwätzchen ist gar keine Zeit. Da ist kein Funken Mitgefühl, sie drängen mit fletschenden Zähnen durch die Schranken, während gusseiserne Dokumente an den Wänden von dem Glanz des Fortschritts kunden und auf Stalins Büro in einem Schacht zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges verweisen, als die deutschen Truppen vor Moskau standen. Insofern ist dieses Monument seiner Heimstatt treu: Moskau kennt keine Tränen!

Zeit für den Underground

Ob es gleich als eine Gesetzmäßigkeit gelten kann, dass das Genre des Undergrounds auftaucht, wenn ganze Welten einstürzen, sei dahingestellt. Fakt ist jedoch, dass sich eine Gegenwelt herausbildet, die der sich in einer tiefen Krise befindlichen Behaglichkeit des herrschenden die Zunge provozierend herausstreckt. Der Underground der 1970iger Jahre war ein einziger Affront gegen das Gesetzte, und die Akteure scherten sich nicht darum, ob noch irgend eine Ordnung ihr Leben beeinträchtigen könnte. Sie machten ihr Ding, Pfiffen auf die codifizierten Sanktionen und erlebten dadurch eine Freiheit, die heute unvorstellbar ist. Plötzlich war alles möglich und nichts war mehr heilig. Das Interessante daran war, dass viele Erscheinungen des Underground weder ins Destruktive noch ins Obszöne abglitten. Der Underground suchte nach einem Gegenentwurf, und kam dabei nicht um die Ironie des Herrschenden herum. Die Dokumente dieses historischen Undergrounds belegen, das Genre hatte Esprit und Witz.

Letzteres entwickelte sich aus der Kritik an dem real Erlebten, an den einstürzenden Dogmen und den schlecht gespielten Rollen. Damals ging es um bürgerliche Doppelmoral, den Kalten Krieg, den Schah von Persien, den Vietnamkrieg und die Provinzialität der Politik. So furchtbar das alles klingen mag, aber es war eine sehr heile Welt verglichen mit den Abstürzen, die seit Jahren im Hier und Heute zuhause sind. Da war eine Weltfinanzkrise, da platzten Immobilien- und Kreditblasen, da ging es immer mehr Ländern an den Kragen, da wurden gewählte Regierungen destabilisiert und Diktaturen gepimpt, da würde mit Verbrechern koaliert und Kriegstreiber mit Waffen versorgt, da herrschte das Standrecht. Und in einem Land, das mitten im Geschehen liegt und das an vielen dieser irrsinnigen, widersprüchlichen Manövern teilnahm, da beherrschten die Gesellschaft Themen, die mit all dem nichts zu tun hatten. Böse Zungen benennen den Wandel und bringen ihn auf das Dreigestirn von Laktoseintoleranz, Veganismus und Helene Fischer.

Wenn die Zustände so sind, wie sie sind, dann lässt sich das falsche Leben nur noch im Underground ertragen. Denn wer in der Gesellschaft steht noch für das, was sie als Modell für sich reklamiert? So wie es aussieht, nur noch der Gegenentwurf. Es ist immer ein Indiz für kritische Zustände, wenn bestimmte Begriffe inflationär fallen. Im Moment ist Wertegemeinschaft so ein Terminus, der ausgerechnet von denen ständig benutzt wird, die alles dafür getan haben, um Schwindelzustände zu produzieren. Eines ihrer großen Vergehen ist die politische Billigung doppelter Standards, die Moralisteninquisition schlechthin. Wenn die Werte an billiges Zweckdenken gekettet sind, haben sie ihre Unschuld verloren. Jede Reaktion, ob auf die Ereignisse in der Türkei, auf einen Amoklauf im eigenen Land oder auf einen Anschlag im benachbarten Frankreich, und das Ausbleiben jeglicher Reaktionen auf noch weitaus schlimmere Ereignisse im Rest der Welt zeigen den doppelten Boden, auf dem agiert wird. Hinzu kommt die Maßlosigkeit, mit der der eigene zweckbestimmte Standard bedient und der vermeintlich unnütze ignoriert wird.

Es ist nötig, sich über soviel Dreistigkeit und Ignoranz zu erregen, und es nötig, diese Erregung politisch zu organisieren. Es ist wahrscheinlich, dass sich aus der geschilderten Unglaubwürdigkeit und Maßlosigkeit ein Gegenentwurf etabliert, der jenseits der direkten politischen Aktion und Einflussnahme spielen wird. Die ersten Phänomene sind schon vernehmbar und ganz im Trend könnte die neue Bewegung Underground2 genant werden. Cool bleiben, witzig sein und sein Ding machen. Jenseits der etablierten, und jenseits der gentrifizierten Langeweile.