Wer weiß, vielleicht befinden wir uns längst in einem Zeitalter, in dem zumindest im Westen der Individualismus noch wie ein Banner hochgehalten wird, aber es sich schon längst abgezeichnet hat, dass es sich um eine Illusion gehandelt hat, die zwar in der bürgerlichen Epoche eine Berechtigung hatte, aber in der technokratisch bestimmten Massengesellschaft zu Staub zerbröselt ist. Denn, genau betrachtet, wo ist denn Individualismus, der den Namen verdient, wenn nicht ein Privileg einiger Weniger, die es sich leisten können, in einer durch Vorschriften und Regelungen durch deklinierten Welt? Wer kann es sich noch leisten, sich einem durch die Gewalt der Meinungsmaschinen im Kommunikationszeitalter fabrizierten Mainstream zu widersetzen, ohne sozial ausgegrenzt und an den sprichwörtlichen Pranger gestellt zu werden?
Es ist nicht nur die Zivilcourage, die vonnöten ist, um sich einem durch keinen politischen Akt vollzogenen, aber trübe wirkenden Kollektivismus zu widersetzen. Mut findet sich immer und überall, auch wenn die Angst zu einem festen Bestandteil der kollektiven Befindlichkeiten mutiert ist. Doch die Courage wirkt oft sehr verzweifelt, weil das Wesen ihres Aufbegehrens von vielen gar nicht mehr verstanden wird. Darin liegt vielleicht der Fluch der Gegenwart. Die allgemeine, erst unterschwellige, jetzt offene Vergewaltigung der Sprache, um der Wahrheit über die Gegebenheiten keine Chance mehr zu geben, hat genauso um sich gegriffen wie die Möglichkeit, dieses Werk zu dechiffrieren geschwunden ist. Es bedarf einer nicht geringen Portion an Bildung und Technik, um die Perfidie der Verschleierung zu durchschauen und zu dekonstruieren.
Nehmen wir ein ganz unverfängliches, gar nicht politisches Beispiel, um zu demonstrieren, was damit gemeint ist. Momentan schwirrt so ein Begriff durch den Kommunikationsäther, der von der Automobilindustrie lanciert und der sicherlich nicht ohne Hilfe von Marketingagenturen zustande gekommen ist. Es handelt sich um den Begriff des autonomen Fahrens. Der Sinn des Begriffes Autonomie hat seine Geläufigkeit aus dem Verständnis, in der Lage zu sein, selbst zu bestimmen, was für den Akteur gut oder schlecht ist, ohne Bevormundung einer dritten Kraft. Es ist folglich ein Begriff, der auch politisch sozialisiert ist mit den Konnotationen von Freiheit und Unabhängigkeit.
Was die Automobilindustrie jedoch damit bezeichnet, ist ein weiterer, gewaltiger Schritt weg von Individualismus und Unabhängigkeit. Das autonome Fahren beschreibt als Endziel das Ende des Individualverkehrs, die Steuerung derer, die in einem Auto sitzen, durch Bord- und als nächstem Schritt Satellitencomputer, die außer dem Fahrtziel alles regeln. Das, was daran autonom sein soll, kann sich nur auf die Steuerungssysteme beziehen, nicht aber auf die Individuen, die sich in dem Automobil befinden. Und gelungen ist die Umdeutung und interessant, aber auch enttäuschend dabei ist, dass selbst die schlimmsten Automobilafficionados diese Mystifikation weder erkennen noch dagegen revoltieren. Es handelt sich um ein typisches Manöver, wie der Sinn eines Begriffs zweckrational umgedeutet wird und eine phlegmatische Öffentlichkeit so etwas ohne Protest hinnimmt.
Was bereits in einer Frage, die die Mobilität von Menschen betrifft, ohne große Wellen des Widerstandes gelingt, ist im Bereich der Politik längst Usus und gehört zum Tagesgeschäft. Wer in der Lage ist, den Sinn von kollektiven Begriffen umzudeuten, der kann die Emotionen im großen Spiel bereits neu anordnen und aus einer rational zu betrachtenden Angelegenheit die wildesten Zornräusche konstruieren. Man denke nur an das Wort Versteher. Etwas vor gar nicht länger Zeit positiv Besetztes ist zu einem regelrechten Hetzbegriff mutiert. Erst wird die Sprache vergewaltigt und dann wird ihr der Sinn geraubt.
