Ein früherer Kollege pflegte eine bestimmte Disposition immer sehr präzise auf den Punkt zu bringen. „Moralische Entrüstung“, so seine Worte, „ist Eifersucht mit Heiligenschein.“ So ganz wollte ich dem nie folgen, vielleicht auch deshalb, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass unser Lebensraum so stark von Eifersuchtsgefühlen durchdrungen ist. Etwas, was einen nicht andauernd beschäftigt und eigentlich fern liegt, wird selten als ein starkes, vieles bestimmendes Motiv erkannt. Denn wäre es wirklich so, dass die moralische Empörung aus dem missgünstigen Argwohn entspränge, dann wäre es sehr schlecht um uns bestellt. Denn eines ist klar: nirgendwo sonst feiert die moralische Entrüstung derartige Feste wie in unserem schwulmigen Kulturraum.
Und es sind nicht unbedingt nur die Alten, denen in der Regel das Schicksal gemein ist, dass sie vieles, was sie der Jugend als verwerflich anhängen, nur deshalb so vehement tun, weil sie es selbst nicht mehr können oder vertragen. Wenn die eigene Konsummaschine nicht mehr reibungslos funktioniert und die Reparaturanfälligkeit dramatisch steigt, ist es durchaus üblich, den Verzicht und die Askese zu predigen. Dass aber ausgerechnet viele Junge mit dem Gefühl der moralischen Empörung durch das Dasein schreiten, das ist eine nicht übliche Erscheinung.
Vielleicht ist es die erfolgreiche Indoktrination mit dem Bewusstsein der moralischen Überlegenheit per se, die dazu geführt hat, dass sich vor allem die Generation zu etwas Besserem berufen fühlt, die aufgrund der Reichtümer aufwuchs, die verantwortlich sind für die systematische und zügellose Ausbeutung von Mensch und Natur. Dann, als die maslow´sche Bedürfnispyramide abgearbeitet war, kamen die Nachkommen auf die Idee, die Frevelhaftigkeit der Vorgänger auf die ganze Menschheit zu übertragen und allen, die so leben wollten, die Zerstörung in toto vorzuwerfen.
Und was so wunderbar gut gegenüber Chinesen und Asiaten im Allgemeinen, gegenüber Russen sowieso und den „Südländern“ generell so wunderbar klappt, das geht natürlich auch in der Binnenwirkung. Alle, die noch Rauchen, Alkohol trinken, Auto fahren, Fleisch essen, Pelze tragen, Kaviar essen oder Kopi Luwak trinken etc. wird die moralische Entrüstung entgegengeschleudert, verkennend, wie die eigene Position der vermeintlichen Überlegenheit hat zustande kommen können. Wer im Glashaus sitzt, so sagt das Volk, soll nicht mit Steinen werfen. Das aber wird getan, der Wertekodex wird immer dann bemüht, wenn die eigenen Fehlleistungen zu offensichtlich werden.
Die einzige Hoffnung, die in dem beschriebenen Überlegenheitsgefühl liegt, wäre die, dass sich der ganze moralische Überlegenheitswahn entpuppen könnte als eine riesige Enttäuschung über die selbst proklamierte Tugendhaftigkeit, die nicht die entzogene Lust kompensiert, sondern nichts als Kleinmut, Hass und Lebensüberdruss hervorbringt. Wie schön wäre es, wenn sich die Menschen in diesem Land wieder befreien könnten von dieser ekelhaften weltlichen Theologie der Enthaltsamkeit und Selbstkasteiung. Wie schön wäre es, wenn der Genuss und seine Produktion wieder als Kunst gälte, die nur unter einem zu leiden hätte, nämlich dem Anspruch auf radikale Demokratisierung.
Was Spaß macht, kann auch sozial verträglich und ökologisch nicht destruktiv sein. Das, was schadet, ist die Ideologie der Askese. Unter dem Strich nährt sie Neid und Missgunst. Moralisch hin oder her, eine bessere Alternative ist das nicht.
