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Ein Plädoyer für die improvisatorisch voranschreitende Annäherung an die Vernunft

Ferdinand von Schirach. Regen. Eine LiebeserkIärung

In Form eines vierseitigen Briefes an seinen Freund Rühle von Lilienstern verfasste Heinrich von Kleist einen kleinen Essay, den er mit dem Titel „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ versah. Er beschrieb darin, wie wichtig es ist, bei der Suche nach Vernunft und Formulierung, bei der Sichtung unbewusster Schätze für eine gewisse Zeit im Status der Improvisation und immer wieder kehrender Störungsimpulse zu verweilen, weil dieser Zustand das Vorurteil und die damit verbundenen Konstanten verbannt und die Möglichkeit gewagter Kombinationen erhöht. Für seine Zeit war ein solcher Gedankengang revolutionär. Und er ist es noch heute. Allein daran zeigt sich, was für ein Komet dieser junge Schriftsteller gewesen ist.

Warum ich daran erinnere? Weil ein anderer Schriftsteller unserer Tage, der mittlerweile in alle möglichen Weltsprachen übersetzt ist und auf den verschiedenen Kontinenten als kluger Zeitgenosse mit großen epischen Qualitäten geschätzt wird, den Sprung aus der sitzenden schriftstellerischen Produktion mit festen Routinen hinaus auf die Bühne gewagt hat und das von Kleist angesprochene Prinzip, das er zweifelsohne kennt, zu eigen gemacht hat. Ferdinand von Schirach stellt sich auf verschiedene Bühnen dieser Republik und beginnt unter dem Titel „Regen“ mit der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken beim Reden. 

Der in der begleitenden Publikation niedergeschriebene Text umfasst gerade einmal 50 Seiten. Es wäre die denkbar schlechteste Referenz an diesen Text, der einem Experiment literarischer Produktion entspricht, mit der Niederschrift des Inhaltes entsprechen zu wollen. Das von Schirach etwas formuliert, ob mündlich oder schriftlich, das nicht eines größeren Räsonnements würdig wäre, ist so noch nie vorgekommen. Und auch dieser, schriftlich festgehaltene Text, enthält Assoziationen wie Thesen, über die sich gründlich nachdenken wie heftig streiten lässt. 

Entscheidend jedoch ist die Methode. Und es ist kein kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang sich außer Kleist noch ein anderer Name aufdrängt: nämlich der Marshall McLuhans, dessen Satz „Das Medium ist die Botschaft“ im Kontext der Kleist´schen Methode noch einmal eine andere Gewichtung bekommt. Das, was von Schirach da auf der Bühne vollzieht, ist ein Plädoyer für die improvisatorisch voranschreitende Annäherung an die Vernunft. Dass sich ein saturierter Schriftsteller einem solchen Experiment aussetzt, ist couragiert und revolutionär. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass in der Literatur noch längst nicht aller Tage Abend ist.

In einem nach dem Bühnentext angedruckten Interview gewährt von Schirach noch einmal Einblick in seine Vorstellungswelt und sein Bild von dem, was wir so gerne das literarische Schaffen nennen. Da sehen wir keinen wilden Revoluzzer, sondern eine von Melancholie erfüllten Zeitgenossen, der außerhalb des Geschehens steht, dem nichts entgeht und der die Welt begreift, jenseits der gängigen Narrative. Ja, das ist große Literatur!