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Die Multipolarität der Machtzentren

Immer wieder gerne wird das Wort Tschou En Lais zitiert. Henry Kissinger berichtete über ein Gespräch mit ihm bei einem Besuch in Peking, als Richard Nixon gegenüber der Sowjetunion die Karte zu spielen begann, die die chinesische genannt wurde. Kissinger hatte Tschou gefragt, wie er die französische Revolution mit der ihr innewohnenden Programmatik von Individualrechten bewerte. Darauf hatte der chinesische Außenminister nahezu erschrocken geantwortet, um das zu entscheiden, sei es noch viel zu früh, das Ereignis liege doch gerade einmal 200 Jahre zurück.

Was dieser Dialog dokumentiert, ist nicht nur die Binsenwahrheit, dass man in China, zumindest dort, wo die Macht ist, in anderen historischen Dimensionen zu denken scheint als im Westen. Das Gespräch macht allerdings auch deutlich, worüber sich die sich damals nach einer Eiszeit annähernden Politiker aus den USA und China unterhielten, oder, um es genauer zu sagen, was Kissinger und Nixon im Gepäck hatten, als sie ins Reich der Mitte fuhren. Es war vor allem die Frage, ob eine Konvergenz in der Bewertung der Fragen der bürgerlichen Gesellschaft möglich sein würde. Sie war schnell mit Nein beantwortet.

Die Frage nach den Menschenrechten, so wie sie in den Verfassungen der bürgerlichen Länder im Westen stehen, sind immer wieder Anlass von Irritationen zwischen China und ihnen. Fest steht, dass sich die Chinesen in dieser Frage nicht drängen lassen und fest steht, dass die meisten Länder des Westens sich trotz der rigiden Haltung Chinas nicht davon abhalten lassen, sich mit dem Land zu arrangieren. Dazu ist es wirtschaftlich und machtpolitisch zu wichtig. Was sich offenbart, ist eine typische Aporie, ein nich auflösbares Problem. Was den Horizont der westlichen Herangehensweise betrifft. Sie ist zudem hinsichtlich der Bündnispartner in anderen Kontexten nicht konsistent. Wer Saudi Arabien einen Verbündeten nennt und sich über die mangelnde Einhaltung von Menschenrechten in China echauffiert, der muss sich die Anzweiflung seiner Glaubwürdigkeit gefallen lassen.

Das Gespräch zwischen Tschou En Lai un Henry Kissinger findet übrigens in Regelmäßigkeit, immer dann, wenn westliche auf chinesische Politiker treffen, sein Fortsetzung. Nur Antworten die chinesischen Gesprächspartner dann nicht mit dem Verweis auf die mangelnde Zeit, sondern mit der Gegenfrage: Was macht sie so sicher, dass Ihre Werte in einer Kultur, die Sie nicht verstehen, die gleiche Attraktion und Bedeutung haben wie bei Ihnen? Zumindest das Nachdenken über diese Frage wäre einen ernsthaften Diskurs wert. Denn jenseits des Individualismus ist in Asien der Kollektivismus ein Wert, den niemand leugnen kann.

Warum diese Betrachtung? Weil erstaunlicherweise aus den USA vermehrt Impulse kommen, dass sich die Welt mittlerweile multipolar in ihrem Machtgefüge gestaltet. Vorbei das bipolare Modell USA-UdSSR, vorbei das US-Monopol. Und parallel zu den Signalen aus den USA kommen analoge aus China und aus Russland. Wenn dem so ist, dann müssen Überlegungen im Vordergrund stehen, wie und mit wem man in Zukunft kommunizieren und verkehren will. Die bundesrepublikanische Politik macht momentan nicht den Eindruck, dass die veränderte Weltlage bei ihr angekommen wäre. Da sieht es eher so aus, als solle eine historisch überkommene bipolare Konfrontation revitalisiert werden. Das als rückwärtsgewandt zu bezeichnen, ist noch wohlwollend. Vielleicht ist es auch zu erklären aus den Horizonten derer, die heute maßgeblich die deutsche Politik bestimmen und in diesem Konflikt sozialisiert worden sind. Nur ist diese Denkweise völlig überkommen. Es wird höchste Zeit, sich mit dem Konstrukt der Multipolarität der Machtzentren zu beschäftigen.

Beschleunigung bei gleichzeitiger Amnesie

Die Beschleunigung und die damit verbundene Kurzatmigkeit der kapitalistischen Produktion hat Folgen. Langfristig ändert sich das Verhältnis zu Werten generell, wenn diese in der materiellen Welt immer schneller vergehen. Ebenso schwindet die Achtung vor Bestand und Tradition. Alles, was längere Perioden übersteht, geht mit dem Stigma der Langeweile und des Ermüdeten daher. Kein Wunder, dass einer der Slogans, der mit dem Hochstadium der Verwertungsgesellschaft verpaart ist, der des Forever Young ist. Nicht, dass frühere Gesellschaften nicht von der Ewigen Jugend geträumt hätten, die massenhafte und maskenhafte Vermarktung gelang jedoch nur in der Jetztzeit. Die im globalen Vergleich gravierendste Folge der kapitalistischen Akzeleration hat auch etwas mit der Zeit zu tun. Es ist die Beschleunigung des geschichtlichen Denkens bei gleichzeitiger Amnesie.

Die Vorstellung, alles, was im Hier und Jetzt passiert, sei aus sich selbst heraus zu erklären und es sei nicht notwendig, die Entwicklung über längere historische Phasen zu ende zu denken, kann als das Symptom der, nennen wir es, historischen Malaise des gegenwärtigen Abendlandes gelten. Um dieses zu illustrieren und in seiner Dramatik deutlich zu machen, sei noch einmal die Anekdote erzählt, die keine ist: Henry Kissinger fragte bei der Annäherung Chinas und der USA beim ersten Besuch Nixons in China den damaligen Außenminister Tschou En-lai bei einem Bankett, was von der Französischen Revolution und dem mit ihr dahergehenden Sieg des Individualismus halte. Tschou En-lai reagierte schockiert auf diese Frage mit dem Hinweis, das zu bewerten sei noch viel zu früh, das Ereignis liege gerade einmal 200 Jahre zurück.

Im Kontext der heutigen Diplomatie und der mit ihr aufkommenden Fragen ist das von dem chinesischen Außenminister dieser Zeit formulierte historische Bewusstsein eines, das in der westlichen Tagespolitik keine Rolle spielt. Wer einen Einblick in die Planung längerer historischer Zeiträume aus westlicher Perspektive bekommen will, muss sich schon in die Labore der amerikanischen Think Tanks begeben. Das, was dort allerdings zu sehen ist, ist imperial und nicht für europäische Augen bestimmt. Ansonsten ist es mit dem Visionären, dem das Stigma des Unseriösen anhaftet, nicht gut bestellt. Dabei täte allem, was zum Beispiel innerhalb der EU geschieht, ein Verhältnis zu einer weitergemachten Zukunft mehr als gut.

Mit dieser Geschichtslosigkeit korrespondiert die unaufhaltsame Auflösung des historischen Bewusstseins bei jenen, die durch Wahlen ein politisches Mandat in die Hände derer geben, die gerne wegen allem Möglichen kritisiert werden, ohne die notwendige Wechselwirkung mit den Auftraggebern zu reflektieren. So, wie die demoskopischen Institute es immer wieder dokumentieren, besteht gar kein Wunsch nach historischer Dimension. Das liegt unter anderem daran, dass das Fach Geschichte in den Schulen kaum noch eine Rolle spielt und innerhalb der Familien das Narrativ des Erlebten faktisch nicht mehr existiert. Vorbei die Zeiten, als Großeltern oder Eltern am gemeinsamen Tisch noch erzählten, wie ihnen die Weltgeschichte konkret widerfahren ist oder unter welchen Produktionsbedingungen sie ihr Dasein fristen mussten. Die Einen können nicht mehr erzählen, die Anderen wollen nicht mehr hören.

Doch wer glaubt, dass der Zustand der kollektiven Amnesie ein weltweites Phänomen ist, der wird gerade in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Nicht nur in China, in vielen anderen Regionen der Welt sind die Erlebnisse von mindestens einem halben Jahrtausend im kollektiven Gedächtnis festgebrannt. Es sind die Erfahrungen mit dem Kolonialismus, der das Handeln vieler Länder treibt, die seit gerade einmal fünfzig bis siebzig Jahren unabhängig sind. Weil der Westen sich nicht mehr erinnert, scheint er nicht zu verstehen.