Schlagwort-Archive: Tragödie

A.C.A.B. in Indien

Ganz nach dem Motto „Jetzt heißt es Allianzen schmieden“ haben sich verschiedene Mitglieder der Bundesregierung auf den Weg gemacht. Dass dabei die alte Kolonie Namibia, die für Wasserstoff sorgen soll, auf dem Reiseplan steht, ist sicherlich ebensowenig ein Zufall wie der Besuch der Außenministerin, die in die alte britische Kolonie Indien gereist ist. Wenn schon das Auftreten des schneeweißen Europas als Neokolonialismus zu bewerten ist, warum dann nicht zuerst einmal in den alten Jagdgründen vorbeischauen?

Unabhängig von den großen historischen Linien ist vor allem der Besuch von A.C.A.B. in Indien von besonderer Bedeutung. Denn Indien mutiert mehr und mehr von einem ehemaligen, zwar bevölkerungsreichen, aber dennoch armen Schwellenland zu einem gewaltigen Machtzentrum. Da, nachdem das Tischtuch mit Russland zerschnitten ist und nun in Phase Zwei dasselbe mit China geschehen soll, liegt es nahezu auf der Hand, Indien auf die eigene Seite ziehen zu wollen. Handelt es sich doch bei diesem Land um eines, das historisch so manche offene Rechnung mit China zu begleichen hat. So zumindest die Spekulation.

Dass es sich bei Indien jedoch um eine Macht handelt, die vor allem ihren eigenen Interessen folgt, muss der wieder einmal mit Werten und Moral und den damit verbundenen Dilemmata beladenen Außenministerin relativ schnell deutlich geworden sein. Trotz ihrer Bereitschaft zu symbolischen Ehrerweisungen, wobei ihr der Besuch an der Gedenkstätte des die Gewaltlosigkeit predigenden Nationalhelden Mahatma Gandhi wohl am schwersten gefallen ist, stieß sie auf Verhandlungspartner, die sehr schnell und nüchtern zur Sache kamen.

Auf das Ansinnen A.C.A.B.s, doch auf den Kauf russischen Öls zu verzichten und Russland für den Krieg in der Ukraine zu verurteilen, erhielt sie die Antwort, dass Indien genauso den eigenen Interessen folge wie die Bundesrepublik auch und man nicht einsähe, aus welchen Gründen auch immer anders zu handeln. Dass die Ministerin in diesem Zusammenhang auf die Wertegemeinschaft hinwies, die in Bezug auf die indische Verfassung stimmen mag, in Bezug auf das Schicksal bestimmter Volksgruppen und Religionsgemeinschaften jedoch nicht, sondern eine ähnliche Problematik aufweisen wie in China, blieb unerwähnt, aber nicht unbemerkt. Das argumentative Kartenhaus einer mit schweren Waffen agierenden und mit Moral verhandelnden Gruppe alter Kolonialmächte ist im Rest der Welt, der allerdings 90 Prozent der globalen Bevölkerung ausmacht, seit langem bekannt. Da nützt es auch nichts, wenn mediale Werbeagenturen der eigenen Bevölkerung im weißen Europa und im von Weißen beherrschten Nordamerika unablässig etwas anderes weismachen wollen.

Insofern war der Besuch A.CA.B.s in Indien ein mächtiger Schlag ins Wasser. Er trug dazu bei, mir eine Anekdote ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie wurde von einem Akteur der deutschen Entwicklungszusammenarbeit erzählt. Es handelte von einem deutschen Projekt in Indien, das sowohl vom Finanzierungsrahmen als auch von der Wirkungsdimension überschaubar war. Dem Projektleiter war es dennoch gelungen, zum zuständigen indischen Minister vorzudringen und ihm das Ansinnen zu erläutern. Dabei verwies er darauf, dass er, der Projektleiter erwarte, dass man sich bei dem Projekt auf Augenhöhe begegne. Die Antwort des Ministers entsprach dem mittlerweile in Indien vorherrschenden Selbstbewusstsein. „Wenn das der Fall sein soll“, so der Minister, „dann müssen Sie noch beträchtlich wachsen.“

Ja, um die gegenwärtige deutsche Außenpolitik zu beschreiben, bedarf es weder der Form des Dramas noch der der Tragödie. Die Anekdote reicht vollkommen aus. 

Der Westen?

Ganz so einfach ist es denn doch nicht, wenn der „Westen“ von und über sich redet. Was die Länder, die sich hinter diesem Schild verbergen, eint, sind eine gemeinsame Geschichte, die nicht frei von Konflikten und Kriegen war, eine, im Gegensatz zu anderen Weltkulturen, relativ analoge Entwicklung von Handel und Produktivkräften und daraus mehr oder weniger resultierenden Verfassungen, die in dem jeweiligen Rahmen bestimmte Freiheiten garantierten, die notwendig waren, um das System mit Leben zu füllen. Der Rest sind Interessenkonflikte, die es in sich hatten. Das bezieht sich auf die heute in der EU versammelten Staaten, aber auch auf  Großbritannien, das sich immer und zu Recht als nicht kontinental fühlte und die USA, ihrerseits eine zivilisatorische Auslagerung des alten Europas, quasi als Neustart auf der grünen Wiese. Nicht mitgerechnet wird heute Russland, das zumindest seit Peter dem Großen immer vitaler Bestandteil Europas war und sein wollte.

Dass sich mit der Sowjetunion in dieser Hinsicht sehr viel änderte, weil sich damit ein Konkurrenzsystem zu dem etablierte, was als die gemeinsame europäische Geschichte mit einer kapitalistischen Produktionsweise bezeichnet werden kann, versteht sich nahezu von selbst. Auch dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der über siebzig Jahre währenden Sowjetunion ist dieser Schmerz in den westlichen Zentren immer noch zu spüren. Auch er erklärt das von negativen Emotionen beflügelte Handeln gegenüber dem heutigen Russland, dem, egal in welcher der jüngsten historischen Phasen, trotz gehöriger Avancen immer wieder und drastisch bedeutet wurde, dass es nicht dazugehören darf. So eskalierte vieles, und zu einer zumindest möglichen Form der Koexistenz und Balance kam es nicht. 

Die Motive der Staaten, die sich unter dem Firmenschild des Westens immer noch versammeln, könnten allerdings unterschiedlicher nicht sein. Das Reklamieren der gemeinsamen Wertegemeinschaft durch hohe Funktionäre und Lobbyisten, ist ein Narrativ, das längst verbraucht ist. Jenseits des gemeinsamen Marktes, was haben die baltischen Staaten mit Spanien, Portugal oder Italien hinsichtlich ihrer Sicherheitsvorstellungen und -Interessen gemein? Welche Motive treiben Belgien, die Niederlande und Luxemburg im Gegensatz zu denen Frankreichs an? Welche Herangehensweise haben die südosteuropäischen Staaten? Und Ungarn oder Polen? Ganz zu schweigen von Großbritannien, den USA und letztendlich Deutschland?

Allein der flüchtige Blick verrät die unterschiedlichen Interessen, die aus der Historie erwachsenen unterschiedlichen Gefühle, der Ängste wie der Freundschaften. Wer da meint, mit einem plakativen „Wir“ sicher durch eine historisch hoch prekäre Lage navigieren zu können, kann es sich leichter nicht machen und kann nicht verantwortungsloser handeln.

Unter dem mit großem Kriegsgeschrei deklamierten Slogan der westlichen Werte werden die Möglichkeiten einer auf Vernunft basierenden und an Interessen orientierten Politik verstellt. Es ist auch nicht Ziel derer, die so unumwunden und gierig in diesen Krieg gezogen sind und alles dafür tun, um ihn so lange wie möglich zu befeuern und am Leben zu halten. Wenn eines sicher ist, dann ihr Desinteresse an dem, was sie stets mit Werten bezeichnen und die in ihrem Munde entwertet werden. Ihnen geht es um gute Geschäfte, die so gut laufen wie nie.

Das historische Makel, das der Westen trotz der Aufklärung aufweist, nahezu im Sinne einer Tragödie, ist die immer vorhandene Diskrepanz zwischen ökonomischem Trieb und politischer Räson. Es existieren Zeiten, zumeist kurze, die als Blüte bezeichnet werden, in denen die Räson das Handeln bestimmt. Gefolgt von Perioden, in denen sich der Trieb auslebt und viele Entwicklungen beschleunigt und einiges zerstört. Beide Seiten gehören zusammen. Vor allem im Westen. Darüber sollten wir reden. Und über die unterschiedlichen Interessen, die das Handeln bestimmen. Ob die Welt – im Westen – dann besser wird, steht dahin. Aber sie wird verständlicher. Und das ist doch schon einmal etwas.