Schlagwort-Archive: Titanic

Eisberge können warten!

So, wie es aussieht, wird es nicht mehr lange so weiter gehen können, wie bisher. Obwohl das bereits ein erreichter Zustand ist. Denn, so, wie es einmal war, ist es schon heute nicht mehr. Alles befindet sich im Fluss, um nicht gleich in eine Untergangsphantasie abzugleiten. Und dennoch sprechen alle Daten für eine verheerende Bilanz. 

Die Ökonomie funktioniert nicht mehr so, wie bisher, die alten Wege führen in die Krise und die neuen sind noch nicht etabliert. Die Ergebnisse der Bildungsanstrengungen haben als Resultat, das überall Fachpersonal fehlt. Das Gesundheitswesen geht trotz hoher Beiträge der Versicherten genauso in die Knie wie die Rentenversicherung. Die Infrastruktur leidet unter jahrzehntelanger Vernachlässigung, die Bundesbahn ist zu einer allgemeinen Metapher für staatliches Versagen avanciert, die Außenpolitik kennt nur noch Konfrontation, die Freiheit wurde durch eine Inflation von Regelungen ersetzt, für die es große Sträuße von Sanktionen gibt, der Kulturbereich mausert sich zunehmend zu einem affirmativen Staatszirkus und das politische System bringt systematisch Volksvertreter hervor, die sich nicht um den Willen der Auftraggeber scheren.

Da muss man schon tief durchatmen, um den Überblick zu bewahren. Hinzu kommt, das alles, womit das staunende Publikum in großem Umfang und auf allen Kanälen konfrontiert wird, angesichts der eigentlichen To-Do-Liste nicht überzeugen kann. Mit Demagogenrhetorik, Symbolpolitik und der serienmäßigen Produktion von Feindbildern ist es nicht getan. Das wissen alle. Und daher drängt sich der Verdacht auf, dass als Konsequenz zunächst, aus bloßer Ohnmacht, eine andere Erscheinung unseren Alltag prägen wird.

Es handelt sich um die mehr und mehr um sich greifende Überzeugung, dass wir in einem Tollhaus leben. Ja, der Wunsch nach einem tatsächlichen Tollhaus nimmt zunehmend den Charakter einer Sucht an. Da darf abgesondert werden, was das Zeug hält. Niemand ist verantwortlich für das, was er von sich gibt. Keine legale, keine ethische, keine moralische und keine zivilisatorische Kategorie hat noch Bestand, wenn es darum geht, sich in der einen oder anderen Weise zu profilieren. Die Gewissheit, dass jede intellektuell wie auch immer abseitige oder stinkende Absonderung aufgegriffen werden wird und sich dann zwei Lager bilden, die sich jenseits aller guten Sitten darüber streiten, ob es sich dabei um ein edles Gut oder widerlichen Unrat handelt. Das Spiel erregt, das Spiel verschafft Erleichterung, aber das Spiel löst die Probleme nicht. Und bei manchen keimt sogar der Wunsch auf, regelrechten Berserkern die Regie zu überlassen, um die Kuriosität der Situation zu illustrieren.

Noch sitzen alle am Spieltisch, mitten im Gesellschaftsraum eines Tollhauses, das anmutet, als sei es auf der berüchtigten Titanic angesiedelt. Bleibt abzuwarten, wie lange dieser Zustand noch subjektive Entlastung bietet. Eisberge können bekanntlich warten, falsche Kurse können korrigiert werden.  Ob das gelingt, steht wiederum in den Sternen. Gut, wer mit sich im Reinen ist und auf keine fremde Hilfe mehr hofft. 

Eisberge können warten!

Die Andrea Doria, Nervenzustände und politische Notwendigkeiten

Außerdem ist alles längst zu spät, und der Nervenarzt weiß auch nicht mehr, wie es weiter geht. Ungefähr so ist die Textzeile aus dem Song Andrea Doria von Udo Lindenberg, mit dem er berühmt wurde. Was als eine Referenz an einen Musik- und Nachtclub gedacht war, könnte man als eine Zuschreibung auf den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand unserer Tage nehmen. Ob wir uns dabei auch auf einer Andrea Doria befinden, jenem italienischen Schiff, das 1956  vor der amerikanische Küste mit der „Stockholm“ kollidierte, deren Passagiere allerdings im Gegensatz zu der 1912 gesunkenen Titanic gerettet werden konnten (1660 gerettet, 46 tot). Und schon lockt die Verleitung, dass eine Kollision mit einem Schiff aus dem eigenen Bündnis, vor der Küste des Hegemons, der Kahn Schiffbruch erlitte und man darüber spekulieren könnte, wie viele Menschen diesmal gerettet werden können oder ob sich das Elend der Titanic wiederholt. Doch satanischer Spaß und Spekulation beiseite, und zurück zum überforderten Nervenarzt.

Ein Amerikaner (!) fragte mich dieser Tage, was hier eigentlich los sei, wenn man bei allen nur noch das Weiße in den Augen sähe, wenn Prognosen über eine Landtagswahl in einem  Nowhereland mit gerade einmal 2 Millionen Einwohnern publik würden, in denen die traditionellen Parteien einen Leberhaken bekämen? Man kann jetzt darüber räsonieren, wie unsensibel und der deutschen Geschichte unkundig der Mann sei. Das Problem dabei ist, dass es sich um einen durchaus auch politisch feinfühligen Menschen handelt, der zudem im Fach Geschichte sehr versiert ist. Was er mitbringt, und wir hier auf der metaphorischen Andrea Doria nicht haben, ist großes Vertrauen in das, was man gewöhnlich die Gesellschaft und ihre Zukunft, oder auch ganz einfach das eigene Land nennt. 

Obwohl ich durchaus beunruhigter bin, was bestimmte Wahlergebnisse angeht, beschäftigt mich doch der Zustand, den der amerikanische Freund, ohne es zu beabsichtigen, mit ansprach. Wo ist eigentlich unsere Zuversicht geblieben? Wann wurde sie zerstört? War sie ein Gebilde aus Pappmaschee, das sich nach der ersten Erschütterung verflüchtigte? Es existieren gravierende Gründe für das Schwinden dieser Form gesellschaftlicher Zuversicht. Und es ist müßig, die Finanzkrisen, Militärinterventionen und die Etablierung inquisitorischer Schauprozesse aufzuzählen, die großen Schaden in das Vertrauen angerichtet haben, und wer die leugnet, ist einfach raus, aus einer Diskussion über die Zukunft. Aber wo, bitte schön, war der selbstbewusste Reflex, der da besagt, so, wie es sich manche Hasardeure, Landesverräter und Karrieristen vorstellen, wollen wir hier keine Politik machen! Nicht in dieser Republik! Nicht mit uns! Das ist unsere Lehre aus der so viel zitierten Vergangenheit!

Stattdessen wird erst gegrunzt, wenn die Wurst im Kühlschrank fehlt und von der täglichen Dosis der Schuldzuweisung jedoch Vorräte im Überfluss vorhanden sind. Bist du aber vollgefressen und fühlst dich schuldig, dann ist mit dir kein Staat zu machen. Und vielleicht ist dies eine Erklärung für den rebellischen Impuls, der bei so mancher Wahl einen falschen Eindruck erweckt. Vielleicht sind es viele Menschen einfach leid, nicht ernst genommen, immer ein bisschen sediert und permanent an ihre Unzulänglichkeit und an ihre kollektive Schuld erinnert zu werden? Vielleicht wollen sie selbstbewusst die Geschicke dieser Republik bestimmen? Nach ihrer Vorstellung des Zusammenlebens, nach ihren Interessen und frei von den Zwängen anderer, die sehr wohl ihre Interessen vertreten? Da heißt es Nerven behalten und den Verstand bemühen!