Schlagwort-Archive: Tief im Westen

Tief im Westen: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

Zwei große Krisen in Folge haben das Gesicht der Welt verändert. Beide, Corona wie der Krieg in der Ukraine, haben Prozesse beschleunigt, die in der Anlage von Produktionsprozessen und Verteilungsschlüsseln wie in geopolitischer Konstellation gravierende Veränderungen bringen werden. Sie haben der ungehemmten Globalisierung in Ende gesetzt und viele Staaten in den Sog von wachsendem Dirigismus und beschleunigter Entrechtung gezogen. Wer diese Tendenzen im Westen, und es sei immer wieder davon gesprochen, weil wir hier leben und unser eigener Rayon der einzige ist, wo die Möglichkeit besteht, die Verhältnisse zu verändern, wer diese Tendenzen hier nicht sieht, ist bereits das Opfer gezielter Desinformation oder eigener Blickverschleierung. Die Zeiten, in denen es reicht, sich über Verhältnisse zu empören, ohne mit den eigenen Mächten zu kollidieren, neigen sich ihrem Ende zu. Entweder man klatscht der herrschenden Politik Beifall oder man wird abgeführt. Diese Diskussion wird allerdings erst fruchten, wenn die Blendlichter ausgehen und die eigene Notbeleuchtung anspringt.

Was die geopolitischen Folgen der russischen Invasion in der Ukraine und der Reaktion von EU und NATO betrifft, so ist aus einer noch vage beschriebenen Multipolarität nun ein festes Schema mit klarer Kontur zu verzeichnen. Durch die seit einiger Zeit etablierten und sich immer mehr zu Superlativen gesteigerten Sanktionsmaßnahmen hat sich, und da stimmt die Wahrnehmung, die vom eigenen Lager kundgetan wird, der Westen als ein sehr homogen wirkender Block  konsolidiert. Aus europäischer Sicht allerdings alles andere als erfreulich. Denn die USA haben ihre militärische Vorherrschaft, auch was Europa anbetrifft, noch ausbauten können und ökonomisch mächtig an Boden zurückgewonnen, weil das deutsche Herz des europäischen Industrialismus durch Sanktionen und Embargos sowie neuen Abhängigkeiten jenseits den Markt betreffender Konkurrenzmöglichkeiten schwere Attacken hat hinnehmen müssen. Und ein Infarkt ist zu befürchten. Dass die Selbstwahrnehmung eine andere ist, hat mit dem Paradigmenwechsel vom Leistungs- zum Identitätsgedanken genauso zu tun wie der unerklärten militärischen Präsenz der USA. Eine kleine Zusatzfrage: Hätten nach dem Abzug von 350.000 russischen Soldaten aus dem Osten zu Beginn der 1990 iger Jahre nicht auch die alliierten und vor allem die amerikanischen Verbände im Westen das gleiche tun müssen?

Auf der anderen Seite hat sich ein strategisch mittelfristig stabiler Block gebildet, der mit seiner bloßen Existenz in relativ kurzer Zeit dem Westen wird klar machen können, dass er sich mit seiner Polarisierungs- und Interventionspolitik mächtig verzockt hat. China, Russland, Indien und der Iran haben nicht nur ihre Beziehungen intensiviert und sind dabei, gegenseitige Irritationen auszuräumen, sondern sie verstärken ihre wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit und könnten, sollten sie nichts anderes tun, bei einer Abkehr von europäischen und amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen eine tödliche Waffe darstellen. Wird die in der EU und den USA etablierte Nötigungs- und Sanktionspolitik gegenüber diesen Ländern fortgesetzt, dann kann es sehr schnell kommen, dass nicht nur die Luxusmodelle von Daimler Benz und Porsche auf diesen Märkten plötzlich nicht mehr als Statussymbole gelten, sondern als Zeichen für die Kollaboration mit dem Feind diskreditiert sind. Wegen der Rohstoffe und Marktanteile braucht die EU diese ungeheure eurasische Dimension mehr als die USA. Dass dies verkannt wird und die hiesigen Ökonomien bewusst in den Ruin getrieben werden, hat Deutschland der eigenen Desorientierung in Bezug auf die existenziell wichtigen Eigeninteressen zu verdanken. Die Anstifter dieser Verwirrung sind jeden Tag in Presse, Funk und Fernsehen zu betrachten. 

„Ich gehe, und weiß nicht wohin“, schrieb Ödon von Horvárth, „mich wundert, warum ich so fröhlich bin.“ Vieles spricht gegenwärtig dafür, dass das lustige Wohlbefinden, dass in den sich selbst feiernden Kreisen eines historisch einzigartigen Aktes der Selbstzerstörung, bald umschlagen wird.  Und nicht mehr bleibt als eine Literatur, die mit den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ am besten beschrieben ist. Und diese Ironie hätte sich der Menschenfreund Dostojewski sicherlich verbeten.

Die Nacht und das Licht

Prosper-Haniel ist der Name der Zeche, die als letzte im Ruhrgebiet schließt. Es ist das Ende einer Ära, die in 150 Jahren alles durchlaufen hat, was eine Ära nur durchlaufen kann. Aufstieg und Fall, Blüte und Ruin. Diejenigen, die das alles erlebt haben, die liegen schon längst in den Beinhäusern zwischen Emscher und Ruhr. Wer sich historisch nicht auskennt, der könnte beim Besuch dieser Grabstätten auf die Idee kommen, es hätte dort ein westfälisch-polnischer Krieg getobt. Da liegen sie zu tausenden, die Zilinskis und Pollmeiers, die Raskowiaks und Kalverkamps, die Tylkowskis und Siebenkötters, die Supenioks und Untieds. Sie alle fielen aber nicht in einem Krieg ihrer Völker gegeneinander, sondern in dem gemeinsamen Feldzug gegen den Berg. Letztendlich gewannen immer nur zwei: diejenigen, denen der Berg gehörte und der Berg selbst. Die westfälisch-polnische Arbeitsarmee blieb auf dem Schlachtfeld liegen.

Heute, wo alle wissen, was es heißt, gegen die Natur zu ziehen, haben sich die Methoden verfeinert und sind die Schlachtfelder verlagert. Der Kampf ist jedoch geblieben. Es geht um Energie, es geht um Industrie und es geht um Wertschöpfung. Menschen und Orte sind längst austauschbar geworden. Die Kohle kommt nicht mehr aus Bottrop, Gelsenkirchen oder Wanne-Eickel, sie kommt aus Korea oder China. Und der Stahl, dessen Herstellung die viele Energie benötigt, wird ebendort produziert, vielleicht, wie in dem prominentesten Beispiel des ganzen Reviers, an einer Straße aus Dortmund, aber weit hinter der chinesischen Mauer.

Die Helden von damals liegen hinter Friedhofsmauern; deren Kinder haben das Drama noch mit eigenen Augen gesehen, und die Enkel haben allenfalls noch davon gehört. All jenen, die in diesen Tagen die Nachrufe auf die Ära des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet lesen, sei gesagt, dass diese Ära mehr Schatten als Licht hatte, dass dort mehr Arbeitskräfte bei lebendigem Leibe aufgefressen wurden als sonstwo, dass die großen Zeiten des Fußballs das einzige waren, woran sich die Menschen ergötzen konnten und dass da herrschte ansonsten die nackte Armut, der Streik, der Putsch und der tödliche Unfall. Und dennoch schmiss diese Maschine ein ganzes Land an und erweckte es mehrmals zum Leben.

Angesichts einer Geschichte, die alles andere als schön ist, lässt sich kaum erklären, warum auch jetzt, wo das endgültige Aus in einem dürftigen, bürokratischen Akt endet, die Emotionen wieder einmal so hochkochen. Da stehen Riesen auf den Straßen und weinen bittere Tränen, da fassen sich Passanten ans Herz, wenn sie ein letztes Mal das Emblem mit den gekreuzten Hämmern sehen.

Heinrich Böll, der Rheinländer, wurde einmal gefragt, wie er das Ruhrgebiet beschreiben würde, und zwar zu einer Zeit, als die Ära noch in Blüte stand. Im Ruhrgebiet, so antwortete der Feinfühlige, im Ruhrgebiet, da riecht es nach Menschen. Das war eine treffende Charakterisierung, denn das Unmittelbare, das Sinnliche und das Unprätentiöse waren vielleicht wirklich das, was diese Zeit und diese Menschen am meisten ausmachte.

Und fragte man die, die längst in den Beinhäusern liegen, was denn ihr Fazit sei, von all dem Ganzen, dann wäre die Antwort eindeutig:

Alleine, bist du ein kleines Licht. Und ohne deinen Kumpel, da hast du keine Chance.

Es könnte auf jedem dieser Grabsteine stehen. Und es ist die teuerste Erkenntnis dieser Epoche. Tief im Westen. Glückauf!