Wie entstehen kluge Strategien? Sie beginnen mit einer Art Heerschau – wir befinden uns seit langem in Kriegszeiten – der eigenen Kräfte und Potenziale. Es wird erkundet, was mit diesen Ressourcen und Potenzialen angestellt wird. Es werden Tendenzen analysiert, mit welchen Chancen und Herausforderungen in Zukunft zu rechnen ist und in welcher Beziehung dieses zu den eigenen Kräften steht. Dann wird überlegt, wie die eigenen Bedingungen verändert werden müssen, d.h. welche strukturellen Veränderungen und welche qualifikatorischen Maßnahmen die Menschen erreichen müssen, um die aus den Herausforderungen und Chancen abgeleiteten Ziele erreichen zu können. Und, nicht zu vergessen, es muss auch betrachtet werden, welche Akteure sich sonst noch auf dem Terrain tummeln, auf dem man selbst agiert. Und selbstverständlich sollte auch sein, sich über deren Interessen wie Fähigkeiten ein Bild zu machen, um austarieren zu können, wo Kooperationschancen bestehen und wo scharfe Gegensätze zu erwarten sind.
Diese kurze Überlegung über die Grundausstattung von Strategiebildung zeigt bereits, in welchem Dilemma sich aktuell der Westen auf diesem Globus befindet. Seit Jahren führt er militärische wie Wirtschaftskriege gegen alle möglichen Akteure auf der Welt, und stets mit dem Ziel, sie nach dem eigenen Bild zu formen, was allerdings noch nie gelungen ist.
Wer das Weltgeschehen über mehrere Hundert Jahre beherrscht hat, und damit sind der westliche Kolonialismus wie Imperialismus gemeint, befindet sich im Rausch der ewigen Suprematie. Und erst, wenn es zu spät ist, zu bemerken, dass sich das Blatt gewendet hat, taucht die Erkenntnis am Horizont auf, dass die Zeiten der eigenen Herrlichkeit vorbei sind. Das erging allen Imperien in der Geschichte so, den asiatischen Horden, den Dynastien Südamerikas, dem Reich der Mitte, Alexanders Griechenland und dem mächtigen Römischen Imperium. Alle erreichten die Hegemonie durch Stärke, wirtschaftlicher, militärischer, kultureller wie mentaler Art. Und alle erreichten irgendwann das Stadium der Übersättigung, der Stagnation und des Niedergangs.
Die Welt, wie sie sich heute gebärdet, liefert ein Bild des Übergangs. Und in diesem Übergang spielt der von Kolonialismus und Imperialismus geprägte Westen die Rolle des sich im Niedergang befindenden systemischen Hegemonen. Er ist gekennzeichnet durch unüberlegtes Handeln, eine zunehmende Aggressivität und eine dramatisch abnehmende Fähigkeit zur Strategiebildung. Man nehme die konkreten politischen Agenden der letzten Jahre, ob aus den USA, ob aus Großbritannien oder aus der EU, und messe sie an den Ansprüchen der eingangs erwähnten Strategiebildung. Alles, was sich darbietet, ist ein kriegerisches Milieu, militärisch wie wirtschaftlich. Der Maßstab für deren Qualität ist der hohe Grad der Selbstschädigung, der mit der Anwendung dieser Agenda verbunden ist. Ganz nach dem Motto: Koste es, was es wolle, selbst zum Preis der Selbstverstümmelung. Das ist keine Strategie mehr, sondern die nackte Verzweiflung.
Kürzlich war eine Betrachtung eines arabischen Journalisten zu lesen, der die hier dargelegte Sicht darlegte: der Westen ist auf dem Globus zunehmend isoliert, erhandelt nach wie vor wie eine Kolonialmacht und er leugnet neue Kraftpole neben sich. Alles, so der Mann, sähe aus wie eine letzte, längst verlorene Schlacht.
Wir, die wir hier im Zentrum des einstigen leuchtenden Abendlandes sitzen und unseren Augen und Ohren nicht mehr trauen, wenn wir die dürren Konzepte einer gänzlich strategieunfähigen politischen Elite zur Kenntnis nehmen müssen und längst die Stimmen aus den andren Winkeln der Welt wahrnehmen können, die bereits von einer gewaltigen tektonischen Verschiebung berichten. Es zerreißt einem das Herz. Aber so ist es mit Tragödien.
