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Die Teleologie der Verwirrung

Unter didaktischen Gesichtspunkten hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine völlige neue Institution in der Bildung öffentlicher Meinung etabliert. Es ist der unter der Chiffre Talk Show zur Schau gestellte Diskurs über scheinbar relevante gesellschaftliche Fragen. Das Setting kam, wie so oft, aus den USA und entspringt dem durchaus positiven Gedanken, dem, was öffentliches Interesse erregt, einen wiederum öffentlichen Raum zu geben, in dem diskursive Reflexion stattfinden kann.

Doch das, was ursprünglich als eine Avance an eine direktere Form von Demokratie verstanden werden konnte, unterliegt wie immer einer nahezu tödlichen Ambivalenz. Die Ablösung der Eliten durch das Volk hatte schnell ein Ende und aus einer sehr virulenten Gegenöffentlichkeit wurde sehr schnell ein professionell fragwürdiges Setting, in dem Dauerakteure gleich Sprachautomaten ihre Dogmen in eine scheinbar hitzige Debatte schleuderten. Positionen wurden nicht verändert, die herrschende Doktrin nie demontiert und die Möglichkeit von tatsächlichen Alternativen systematisch blockiert. Neben den Sprachautomaten unterschiedlicher Couleur tauchten die Moderatorinnen oder Moderatoren auf, deren Job es war und ist, die herrschende Doktrin von Zeitgeist und Modernität in dem jeweils günstigsten Licht erscheinen zu lassen.

Der andernorts beklagte Verlust einer politischen Programmatik fand in dem Medium der Talkshows seine Entsprechung. Die Betrachtung des Ganzen, die Identifizierung eines gesellschaftlichen Konsenses und die Ableitung daraus auf das erregende Einzelne wurde ersetzt durch die Betrachtung des Partikels und, wenn es hoch kommt, den Schluss von dort auf das Ganze. Das, was als das große Prinzip der Deduktion bezeichnet werden kann, die Ableitung des Einzelfalls von einer holistischen Weltbetrachtung, fand Ersatz im Prinzip der Induktion, in dem seinerseits der Einzelfall dazu dient, um auf ein vermeintlich höheres Ganzes zu schließen, dem jedoch niemand mehr folgen kann, weil es gar nicht mehr existiert. Das Ergebnis ist eine chronische Irritation und böse Zungen behaupten, darin läge der ganze Sinn der Übung.

Das, was dann in der Chronologie der Ereignisse auftaucht, sind Schlagworte, die hoch emotionalisieren, aber kaum noch etwas klären. Ein amerikanischer Freund, nicht der deutschen Sprache mächtig, der ein bis zweimal im Jahr den Weg nach Deutschland findet, begann ein Spiel damit, dass er nach Schlagwörtern fragte, die er immer wieder in den Radionachrichten hörte und unter denen er sich nichts vorstellen konnte. Das Spiel begann mit der Frage Whats Lüchow-Dannenberg?, hatte jedes Jahr mindestens ein bis zwei neue Aspekte, mal Kachelmann, mal Fukushima, mal Nokia Bochum, mal Edathy, mal Parteispenden, mal Atommüll und Waldsterben, mal Flüchtlingskrise oder Böhmermann.

Die Hitze, die sich mit den Schlagworten verbindet, strahlt bei ihrer Nennung noch ab. Die traurige Bilanz dieser wenigen, in dem Spiel mit dem amerikanischen Freund zitierten Begriffe, ist eine praktische Folgenlosigkeit sondergleichen. Ihre Bearbeitung im öffentlichen Raum hat zu einer jeweils moralischen Positionierung der Gesellschaft beigetragen, aber nicht zu rational getroffenen politischen Konsequenzen.

Diese Kritik auf das Medium der Talk Show zu reduzieren wäre jedoch weit überzogen. Die Demoskopie als synthetische, psychedelische Droge vieler Politiker hat jedoch dazu geführt, dass sich große Teile der politischen Klasse mehr um die Zugehörigkeit zu der korrekten moralischen Position gekümmert hatten als um die politisch sinnvolle Konsequenz. Nur so konnte das Medium der Talk Show zu dem verkommen, wie es heute erlebbar geworden ist. Eine Reflexionsrunde von gesellschaftlich Irrelevanten, deren Teleologie die Verwirrung ist.

21st century schizoid man

Längst kennen wir das Phänomen: Diese Mischung aus Exhibitionismus und Prüderie, die den öffentlichen Diskurs unsrer Tage so oft absonderlich erscheinen lässt. Man darf gar nicht erst beginnen, die jeweilige Regung, die sich Bahn bricht, auf Konsistenz zu überprüfen. Es würde wohl zur sofortigen Umnachtung des Denkapparates führen. Wie sonst ist zu erklären, dass Zeitungen, die seit eh und je mit nackten Pin-Ups auf den Frühstückstisch oder in die Werkskantinen flattern, sich zu Moralaposteln aufspielen und ein gesellschaftliches Tabu nach dem anderen aufzustellen versuchen. Angesichts ihrer sonstigen Praxis vermöchte man das Verhalten vielleicht nur mit der psychologischen Paradoxie zu erklären, dass nämlich moralische Entrüstung nichts anderes ist als eine Form der Eifersucht im Heiligenschein. Und nicht nur die klassische Presse, zumindest in ihrer Regenbogenversion, sondern auch die Lehranstalten des gesellschaftlichen Diskurses, die Talk-Shows, in denen die zweifelhaftesten Figuren längst den Lead ergriffen haben, debattieren über das Intimste, wenn es darum geht, die Neugierde zu befriedigen und ereifern sich auf das Schlimmste, wenn die Nacktheit nicht dem Begriff der Prüderie standhält.

Die öffentlich-rechtlichen Sender haben in diesem Spiel längst ihren Auftrag hinter sich gelassen. Der lautete nämlich, zumal in der Begründung der Finanzierung aus dem Fiskus, dass es primordiale Aufgabe der Sendeanstalten sei, die Bürgerinnen und Bürger zu informieren, zu bilden und über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln bei den Mandatsträgern zu wachen. Letztere liefern nur noch den Vorwand, um die Bevölkerung zu kriminalisieren und zu verhetzen. Torquemada hieß er, der größte und schrecklichste Protagonist der spanischen Inquisition, der als Schutzpatron über mancher Sendung schwebt. Sein Konzept gilt auch heute noch: Finde das Opfer, schaffe einen Rahmen für das Delikt und liefere scheibchenweise Indizien, die das Publikum erschaudern lässt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich dabei um den ganz medialen Alltag der Jetztzeit handelt.

Die Frage, die sich im Zusammenhang mit diesen Wirkungszusammenhängen stellt, ist die nach der Psychensozialisation des breiten Publikums. Wie gehen die Seelen mit dieser Konkordanz von Enthüllung und Verschleierung, von Exhibitionismus und Prüderie, von Tabula rasa und Tabu eigentlich um? Bringt sie ihnen Orientierung und Gewissheit oder gar ein Instrumentarium zur eigenen Welterklärung oder macht es sie einfach nur kirre und schizoid? Letzteres ist zu vermuten, denn Handlungsableitungen aus der vermeintlich nur aus Skandalen bestehenden Zeitgeschichte scheint es nicht zu geben. Die ständig neu genährte Regung ist der Zweifel und die Angst, sich zwischen den verschiedenen Antipoden entscheiden zu müssen. Denn wer sich vergreift in seiner Wahl, der landet im Hemd des Irren auf dem Scheiterhaufen einer Moral, die eigentlich gar keine mehr ist. Denn das Tabu als Alleinstellungsmerkmal ist ebenso wenig sinnstiftend wie die pornographische Nacktheit stimulierend.

So, wie es ist, kann es nicht mehr weiter gehen. Die sittliche Verunsicherung, die Dekonstruktion der Urteilskraft und die Salonfähigkeit empörter Hysterie haben die gesellschaftliche Psyche an einen Zustand heran gebracht, der sie empfänglich macht für Demagogie und Tyrannei. Die in aller Öffentlichkeit und Breite geführten gesellschaftlichen Diskurse sind weit über das hinaus, was Stefan Zweig einmal in Bezug auf das neunzehnte Jahrhundert noch so treffend das Lotterbett der Kolportage nannte. Nein, es ist ein Labor, in dem die Massenpsychologie von Diktaturen erprobt wird. Es geht um sehr viel, und viel mehr als nur den guten Geschmack.