Schlagwort-Archive: Systemvergleich

Wokeness: „Doch nur ein totes Stück Fleisch!“

Auf viele Faktoren wird verwiesen, wenn die verschiedenen Mächte dieser Welt miteinander verglichen werden. Vor allem im Westen sucht man nach Erklärungen für den allmählichen, nicht mehr zu leugnenden Niedergang von der einstigen unangefochtenen Vormachtstellung auf dem Globus. Da wird viel aufgeboten, um das zu entschlüsseln. Was auffällt, ist eine Kritik an den sich neu etablierenden Mächten. Da sind Autokraten am Werk, da wird die Demokratie mit Füßen getreten, da wird mit Hackerangriffen der Westen destabilisiert, da wird Werkspionage betrieben, da wird staatlich subventioniert, was der freie Markt so nicht kompensieren kann etc. etc.. Einmal abgesehen von vielem, was dort moniert wird, das durchaus auch im Westen betrieben wird, fällt auf, dass der Blick ausschließlich nach außen gerichtet ist. Und darin liegt das Problem.

Einmal abgesehen von der immer ausgeklammerten Frage, ob das Wirtschaftssystem, dem der Westen vital verbunden ist, nicht radikal seine Grenzen in der sozialen wie ökologischen Dimension mit jeder Krise neu dokumentiert, wäre es auch einmal an der Zeit, die sozio-kulturelle Befindlichkeit der einzelnen Blöcke näher unter die Lupe zu nehmen. Die in diesem Kontext wohl exquisitesten Faktoren sind die Einstellung zur Zukunft, die Definition von Gemeinschaft und der damit verbundenen Anforderungen an das Individuum und Einstellung zu Krieg und Frieden. 

Die Antwort auf diese Fragen im Westen wäre ein Ansatzpunkt, um mit vielem, was sich dort abspielt, ins Gericht zu gehen, ohne gleich auf äußere Feinde zu zeigen, die für alles verantwortlich gemacht werden sollen, was im Argen liegt. Um es kurz zu machen: Der Glaube an die Zukunft, getragen von einem Gefühl der Zuversicht, ist dem Wettbewerb der Dystopien erlegen. Die Einstellung des Individuums in Bezug auf die Gemeinschaft ist die eines Forderungskatalogs in Richtung Gemeinwesen ohne definierte Gegenleistung des Individuums. Und die Einstellung zum Krieg ist latent positiv, weil alle anderen Akteure, die sich auf der Welt bewegen und die nicht dem eigenen Muster folgen, als Feinde ausgemacht sind. Das Weltbild ist so klar wie desaströs. Vergleiche mit anderen Ländern, die sich auf den Weg gemacht haben, eine größere Rolle zu spielen, zeigt, mit welchen mentalen Malaisen der Westen sich herumschlägt.

Vor allem der Aspekt, der sich mit dem Konnex von Individuum und Gemeinschaft befasst, dokumentiert das ganze Desaster. Die einstmals in jeder Pore präsente protestantische Leistungsethik ist einer Überrepräsentation des Befindlichen gewichen und manifestiert das Ende des Leistungsgedankens. Das, was sich in der Vorstellung des Individuums über seine Rolle gegenüber dem Gemeinwesen niederschlägt, findet unter der Überschrift von Anti-Diskriminierung seinen vorläufigen Höhepunkt. 

Die Existenz des Menschen ist eine soziale. Soziale Existenz bedeutet Arbeit in Bezug auf die Gemeinschaft, in der er lebt. Dieses Prinzip ist, zumindest ideologisch umgekehrt in der formulierten Forderung an die Gesellschaft, dem Individuum gegenüber wertschätzend zu handeln, unabhängig von der Leistung des Individuums gegenüber der Gesellschaft. Das ist der Morbus Wokeness, der die westlichen Gesellschaften zunehmend befällt und gegen den sie nicht immun sind.

Oder, wie es die Metzgersfrau im Laden an der Ecke so treffend auf den Punkt brachte: „Wenn du nichts machst, dich nirgendwo engagierst, sondern nur forderst, dann bist du doch nur ein totes Stück Fleisch. So kommen mir die Leute vor, die immer nur auf ihre Herkunft verweisen. Die hängen, übertragen gesprochen, am Haken. Vom Veterinär geprüft und gestempelt. Mehr ist das nicht!“

Die Rückkehr des Sonnenkönigs

Die Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Staat haben in den westlichen Demokratien zugenommen. All jene, die sich auf die Straßen wagen, um ihren Widerspruch zu Regierungshandeln zu bekunden, sind, anders als in früheren Zeiten, sehr schnell der Staatsfeindlichkeit verdächtigt. Was läge, anhand einer derartigen Ausbreitung eines zeitgenössischen Phänomens, näher, als sich den Staat, so wie er sich darstellt, noch einmal näher vor Augen zu führen.

In der Theorie über die bürgerliche Demokratie handelt es sich bei dem Begriff um die Vergegenständlichung des Volkswillens in seiner unabhängigen Form. Das klingt wirr, ist es aber ganz und gar nicht. Über freie, geheime und gleiche Wahlen werden aus dem Volk Menschen gewählt, die ihrerseits die Politik gestalten, Gesetze beschließen und diese mittels der Organe und Institutionen, die ein Staat aufbietet, Realität werden lassen. D.h., auf gut Deutsch, der Apparat und die Bürokratie folgen der Politik. 

Wie jede Theorie muss sich auch die vom bürgerlichen Staat an der Praxis messen lassen. Etwas, das man im letzten Jahrhundert noch einen Systemvergleich nannte, nämlich das Messen der bürgerlichen Gesellschaften an denen, die sich auf das Proletariat beriefen und sich sozialistisch nannten, ist Schnee von gestern. Zu vergleichen gibt es nichts mehr. Und auch die Staaten der bürgerlichen Gesellschaften haben sich seitdem verändert, d.h. seit sie sich nicht mehr mit einer anderen Staatsvariante messen mussten, sind sie selbstvergessen in ihre Selbstauflösung geschlittert. Die Ideologie des Wirtschaftsliberalismus hat den Staat überall dort, wo er noch so etwas wie das Agieren für das Gemeinwohl reklamierte und bestimmte Güter den Gesetzen des freien Marktes entzogen hat, mit Erfolg den Kampf angesagt. Das Finanzkapital hat sich zum neuen Sonnenkönig gemausert, der den Staat als Identität mit den eigenen Interessen definiert.

Die alten, klassischen Varianten der Interessenvertretung haben durch Globalisierung und die damit verbundene erneute Revolutionierung von Märkten und Technologien allenfalls noch den Stellenwert einer nostalgischen Reminiszenz. Weder Parteien noch Gewerkschaften haben die Stärke, Interessen großer Teile der Bevölkerung gegen das allgegenwärtige Konsortium des unvorstellbar großen Geldes durchzusetzen. Und ein Staat, der seine Organe mehr und mehr zu einer die Bevölkerung unter Kuratel stellenden Bürokratie ausgebaut hat, sieht sich nun konfrontiert von einer wachsenden Skepsis einer sozial heterogenen Bürgerschaft. 

Die Manöver, Dissens mit dem Vorwurf des politischen Irrsinns abtun zu wollen, das derzeit wohl gängige Muster des Umgangs mit Widerspruch, haben sich genauso verzehrt wie das Reklamieren von Werten, ausgerechnet von jenen Karrieristen, die alles verkauft haben, was sie via Geburt in einer Gesellschaft mitbekommen haben: Ihre Klasse und die damit verbundene Vorstellung sozialen Handelns. Sie haben die Kenntnis nie erworben, dass sowohl Apparate als auch Parlamente synthetische Sozialräume sind, die zwar in der Lage sind, alles zu simulieren, was woanders auch gilt, aber dennoch nicht zu vergleichen sind mit der „richtigen“ Welt. Die in einem ganz bestimmten, seriell hergestellten Karrieremuster sozialisierten Verkünder der demokratischen Werte haben diese längst hinter sich gelassen.

Der Staat, so hieß es einmal, in einer Zeit, als die Gesellschaft weitaus offener war, als es sich die heute als offen reklamierte jemals wird vorstellen können, der Staat, das sind wir! Dass es sich auch dabei um eine Illusion handelte, hat die Geschichte immer wieder dokumentiert. Zu bedenken sollte sein, dass diese Illusion heute keinem mehr über die Lippen käme. Das ist beredt  genug. Der Sonnenkönig ist längst zurück und verbirgt sich hinter astronomischen Zahlen.

Tarifabschluss: Bereits vertilgt!

Wenn nach einem Indiz für die Unglaubwürdigkeit von System und Personal gesucht werden soll, dann liegt dieses jetzt vor. Es ist der unisono vom Bundesinnenminister wie vom Neuen Ver.di-Vorsitzenden gefeierte Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst. Betrachtet man tatsächliche Laufzeit und die zu daraus abzuleitenden realen Erhöhungen für all jene Beschäftigten, die während Corona-Ausbreitung und dem verordneten Lockdown den Laden am laufen gehalten haben, dann kann kalt darauf geantwortet werden, dass die Summen bereits allein durch die Verteuerung der Lebensmittel bereits vertilgt sind. Die Chance, nach dieser tiefsitzenden Erfahrung, die Pflegeberufe aufzuwerten, wurde schlichtweg vertan. 

Besonders seit Ausbruch der Krise wurde immer wieder darüber spekuliert, inwieweit eine Systemabhängigkeit von der Fähigkeit vorliegt, diese Krise besser zu managen zu können. Der Blick geht dabei nach China, wo schnell und dirigistisch drastische Maßnahmen ergriffen werden konnten, um die Epidemie eindämmen und bekämpfen zu können. Immer wieder ertönen die Kassandrarufe, das Ende der Demokratie deute sich an, weil das hier alles viel länger dauere schlechte Entscheidungen getroffen würden. 

So kann das gesehen werden, muss es aber nicht. Was die chinesische Staatsführung besonders auszeichnet, ist das Denken in ganz anderen Dimensionen, d.h. heißt in besonderem Maße eine strategische Ausrichtung vorliegt und, das hatte man im selbstgefälligen Westen gar nicht vermutet, eine eine große Lernfähigkeit zu beobachten ist. Beides, strategisches Denken wie Lernfähigkeit, sind nicht unbedingt einem bestimmten, historisch konkreten politischen System verpflichtet. Allerdings ist beides in den Demokratien des Westens eher eine Seltenheit. 

Vielleicht liegt es nicht am System, sondern ganz einfach am Personal. Die Sozialisation der politischen Klassen im Westen ist nahezu analog, sie studieren dasselbe und sie durchlaufen vor der richtigen Aktivität noch eine Beratungsgesellschaft, und dann sind sie komplett, quasi als Serie X5-A neoliberalistischer Präparierung. Was dabei herauskommt, ist eine gleichförmige, flache Rhetorik und das Herunterbeten neoliberaler Glaubenssätze. Sollte die Rhetorik abweichen, sei empfohlen, sie mit den tatsächlichen Entscheidungen abzugleichen. 

Die These, die sich mit dem Vergleich zwischen China und dem Westen ableitet, ist die, dass die Qualität des politischen Personals hierzulande nicht mehr den großen Krisen, mit denen eine multipolare, epidemisch gefährdete und globalisierte Welt daherkommt, mithalten kann. Da reicht es nicht, apologetisch die eigenen Entscheidungen zu verteidigen und jede andere Meinung dem Drecksturm eines digitalisierten Pöbels auszusetzen. Das ist keine demokratische Tugend, sondern eine Bankrotterklärung.

Die These wird durch das Verhalten vor, während und nach den Tarifverhandlungen untermauert. Bei Ausbruch und während der Krise wurden die in den Krisengebieten arbeitenden Menschen über den Klee gelobt, als es um ein einigermaßen Lohn der chronisch unterbezahlten Lohngruppen ging und sich die Betroffenen zu Warnstreiks entschlossen, wurden sie als meuchlerische Erpresser diskreditiert und jetzt werden sie mit irrelevanten Petitessen abgespeist. Gleicht man das mit den Rettungspaketen für verzockte Banken ab oder mit den Subventionen für bestimmte Branchen im Rahmen der Corona-Krise, dann zeigt sich, wohin der Hase weiter läuft. 

Das, was viele gehofft hatten, nämlich eine Wende im Denken, erweist sich als Illusion. Es geht so weiter, wie bisher, zumindest mit diesem Personal. Hat irgend jemand eine Stimme gehört, aus der Partei des Bundesgesundheitsministers, aus der Sozialdemokratie, von den Grünen, die sich für bessere Löhne, z.B. in der Pflege, während der Tarifverhandlungen ausgesprochen hätte? Eben!