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Leicht erzählte Systemtheorie

J.J. Voskuil, Das Büro. Direktor Beerta

Der Niederländer J.J. Voskuil, 1926 – 2008, seinerseits über dreißig Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Institut zur Erforschung der Volkskunde beschäftigt, hatte, nachdem einige literarische Versuche nicht sonderlich großen Erfolg gebracht hatten, nach Beendigung seines Wissenschaftslebens die Idee, sein Berufsleben in Form eines Romans zu verarbeiten. Was daraus entstand war ein sieben Bände umfassender Monumentalroman von mehr als 5000 Seiten unter dem Titel Das Büro. Er verfasste das Werk im Zeitraum von 1996 bis 2000. In den Niederlanden erreichte das Werk in kurzer Zeit Kultstatus. In Deutschland liegen bereits die ersten beiden Bände in deutscher Übersetzung vor.

Schon der erste Band mit dem Namen Das Büro. Direktor Beerta, ist dazu geeignet, das Rätsel um ein Phänomen zu lösen, dessen Wirkung zunächst absurd erscheint. Wie, so die vielerorts gestellte Frage, kann es sein, dass ein Roman, der sich mit dem profanen Alltag eines Wissenschaftsbüros mit dem eher trivialen Aktionskreis niederländischer Volkskunde beschäftigt, eine derartige Resonanz auslösen. Die Lektüre gestaltet sich zunächst eher genauso profan wie die Anziehungskraft der Ausrichtung des Büros. Ein eher altbacken daher kommender, konservativer Direktor des Büros beginnt, eine Institution aufzubauen. Da ist sehr viel Provisorisches und Profanes, die Figuren der ersten Stunde werden vorgestellt, unter ihnen auch Marten Koning, das alter ego des Autors Voskuil. Verschiedene Wissenschaftler werden vorgestellt und so langsam etablieren sich Arbeitsbeziehungen und es konturiert sich ein erstes Soziogramm der Beziehungen untereinander. 

Die Geschichte beginnt im Jahr 1957 und die stetige Vergrößerung und Erweiterung des Büros schleicht sich im ersten Band durch die Jahre bis 1965. Ohne an analytische Reflektoren appellieren zu müssen, gelingt Voskuil eine sehr präzise Nachzeichnung systemischer Theorie am Beispiel des Büros. Der systemtheoretische Grundsatz, dass der erste und dominante Zweck von Systemen darin besteht, sich selbst zu erhalten, wird deutlich. Marten Koning, der nicht mit Illusionen in diese Anstellung gegangen ist, wird dennoch durch diese Erkenntnis mächtig irritiert und hat zu lernen, dass die wissenschaftliche Ausrichtung des Büros allenfalls als sekundärer Zweck zu deuten ist.

Eine weitere, mit Fortschreiten der Lektüre sich immer mehr in den Vordergrund drängende Erkenntnis ist die allmähliche Veränderung von Gesellschaft und Arbeit durch technische Innovation wie einen schleichend vonstatten gehenden Wertewandel. Allein die Einführung von Tonbandgeräten, natürlich durch eine Frau, die die Arbeit bei der volkskundlichen Recherche revolutionieren, mutet aus heutiger Sicht an wie eine Blaupause menschlichen Verhaltens gegenüber technisch-revolutionären Prozessen. Die Reaktion variiert von technologisch verklärender Idealisierung bis hin zu inquisitorischer Verteufelung. Hinzu kommt ein Einblick in die in Europa nicht unbedingt stereotype Entwicklung der Niederlande: Einem strammen, aus dem Protestantismus generierten Konservatismus stellt sich eine die Lebensformen fokussierende Liberalität entgegen, ohne dass daraus unüberbrückbare gesellschaftliche Verwerfungen resultierten. 

Die große Anziehungskraft, die das Buch bei selbst vorhandener Anfangsskepsis entwickelt, resultiert aus der genauen Beobachtung und dem Verzicht auf eine zu große Verpflichtung auf Handlungsdetails. Immer, wenn der Eindruck entsteht, es ginge zu sehr in die mikroskopische Begutachtung, setzt sich die Handlung auf einem anderen, eher profan wirkenden Feld fort. Das große Pfund, auf das der Autor Voskuil setzen konnte, war die kollektive Erfahrung der Leserschaft in Bezug auf das Büro, seine Arbeitsabläufe und seine sozialen Beziehungen. Jede bürokratische Absurdität, jede menschliche Schrulle und jeder noch so irrsinnige Widerstand gegen Innovation lösen bei der Leserschaft Deja vu-Erlebnisse aus, die die eigene Erfahrung reflektieren. Deshalb, so die Prognose, wird die Wertschätzung dieses Werkes stetig zunehmen. Zu Recht. 

Die Institutionalisierung von Ideen

Die Ressorts, in die Politik aufgeteilt ist, haben etwas mit den Grundfunktionen einer Gesellschaft zu tun. Das ist banal wie notwendig. Es geht um Ordnung, es geht um Soziales, es geht um die Wirtschaft und es geht um Verteidigung. Das sind die Aspekte, um die ein Gemeinwesen in der Regel nicht herumkommt bzw. die zum Wesen einer Gesellschaft gehören. Bei genauem Hinschauen ist das sogar noch differenzierter. In der Regel reichen diese Ressorts aus, um den Staat zu organisieren und funktionsfähig zu halten. Alles andere obliegt der Fähigkeit der Akteure. Nicht alles, nicht jeder Aspekt verlangt nach einer eigenen Organisation. Es sei denn, die Handelnden fühlen sich durch eine neue, andersartige oder komplexe Aufgabe in ihrem Handeln so überfordert, dass man sie durch eine eigene Organisation entlasten müsste. 

Es begann in den achtziger Jahren. Im politischen Diskurs wurden Arbeitsfelder entdeckt, die zumindest in der Relevanz bei Wahlen vorher keine, dann aber eine zunehmend große Rolle spielten. Um sich dieser Themen anzunehmen, wurden Funktionen geschaffen, die weniger auf Bundes-, mehr aber auf Landes- und kommunaler Ebene institutionalisiert wurden. Es entstanden die so genannten Querschnittsfunktionen, die zumeist repräsentiert wurden durch Einzelpersonen mit spärlich besetzten Büros. Zum einen waren sie ein Zeichen dafür, dass Fragen wie die der Immigration, der Frauenemanzipation oder der Ökologie zumindest von der in Regierungsmacht stehenden Politik wahrgenommen wurden. Zum anderen hatte die Etablierung dieser Funktionen verheerende Folgen für den Fortschritt im kollektiven Denken. Sie wurden institutionell marginalisiert und aus den grundlegenden Überlegungen zur gesellschaftlichen Geschäftsführung verbannt.

So gut gemeint das Unterfangen einer Institutionalisierung wichtiger Aspekte des politischen Diskurses auch war, so sehr entledigte es den Rest der Funktionsträger wie die Gesellschaft, die Fragen, die mit dem Aspekt verbunden sind, direkt im eigenen Bereich zu klären und praktische Lösungsansätze zu entwickeln. Alles, was mit dem Thema Immigration zu tun hatte, landete auf dem Tisch der damals noch genannten Ausländerbeauftragten. Diese waren schnell überfordert und der Rest nutzte sie wie einen Filter, um die eigene Arbeit ungestörter machen zu können. Im Grunde genommen ist die Herausbildung von Querschnittsfunktionen in der staatlichen Organisation ein typischer Fall aus der systemischen Theorie: Die Komplexität des politischen Diskurses erhöht sich, diese wird reduziert durch die Schaffung einer neuen Funktion, die vor allem zur Aufgabe hat, das prä-existierende System nicht durch den neuen Aspekt zu gefährden. Regel Nummer Eins: Systeme streben zunächst danach, sich selbst zu erhalten. Erst in zweiter Linie kümmern sie sich darum, was sie laut Etikett machen sollen.

Und so ist es kein Wunder, dass mit der wachsenden Komplexität des politischen Diskurses eine regelrechte Bürokratisierungswelle einsetzte. Die Anzahl der Sonderfunktionen in der Exekutive stieg in den letzten Jahrzehnten rasant. Und es ist ebenso kein Wunder, dass die politische Wirkung der institutionalisierten Fragestellungen weit unter den Erwartungen der Wohlmeinenden blieb. Auch dort gilt und galt die Regel Nummer Eins der Systemtheorie: Erstens Selbsterhaltung, zweitens das tun, was draufsteht. Hinzu kommt, dass die anderen, so genannten lebenswichtigen Systeme der Frage entledigt sind.  

Mit der Diskussion über die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Diversität steht eine erneute Institutionalisierungswelle bevor. Sie wird nicht dazu führen, die Ideen, die sich mit dem Denken in Diversitätsdimensionen verbinden, zur gesellschaftlichen Entfaltung kommen zu lassen. Es geht um politischen Proporz und Kontingentierung. Nicht um eine Liberalisierung der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Bürokraten morden immer die Idee. 

Organisation und Entscheidung

Entscheidungen sind so eine Sache. Kaum eine Angelegenheit des Willens und des Intellekts erweckt so viele Emotionen wie die Entscheidung. Ganze Kulturkritiken setzen gar an ihnen an. Und tatsächlich: Wenn etwas das Leben einzelner Menschen und ganzer Gesellschaften bestimmt, dann sind es Entscheidungen. Dafür, dass dieses so ist, was sicherlich auch kaum jemand bezweifeln wird, machen wir uns allerdings wenig Gedanken zu dem Thema. Ganz versteckt, in den Kammern der Wissenschaft oder der Philosophie, werden leise Diskurse über das Wesen der Entscheidung geführt, aber dort, wo diese laufend getroffen werden, da regiert die Situation und der Bauch.

Manche gehen so weit, dass sie das Wesen eines Gemeinwesens anhand der von ihm und in ihm geführten Entscheidungen glauben diagnostizieren zu können. Einer von ihnen war der Soziologe Niklas Luhmann, hierzulande als Mentor und Protagonist der soziologischen Systemtheorie bekannt. Aber selbst er, der wenig Ehrfurcht vor Tabus hatte, hatte entweder innerlich noch nicht mit dem Thema abgeschlossen oder nicht die Courage, eine Erkenntnis noch zu Lebzeiten in den Diskurs zu speisen, die vielleicht eine bittere Diagnose zur Folge gehabt hätte. Nämlich eben die, dass der Zustand von Organisationen ablesbar ist an der Geschwindigkeit, mit der sie in der Lage sind gute, d.h. richtige, vorausschauende und nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Das war die Erkenntnis, die gewissenhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in seinem Nachlass fanden und zu dem letzten Buch dieses außergewöhnlichen Autors formten. Es trug den Titel „Organisation und Entscheidung.“

Nicht umsonst haben wir in der deutschen Sprache bestimmte Begriffe, die in der Lage sind, eine gewisse Komplexität zu erfassen als auch das zu charakterisieren, was gerade passiert. Obwohl wir in einer Phase der virulenten Globalisierung leben, existieren dennoch kulturelle Unterschiede, die vielleicht das ausmachen, was die positive Spannung in der Welt genannt werden kann. Im Deutschen heißt es nämlich, wir hätten hier Entscheidungsträger. Gemeint ist damit, dass diejenigen, die über Macht verfügen, auch die Konsequenzen der Entscheidung tragen müssen. Da liegt die Konsequenz des Aktes schon im eigenen Begriff, was nicht überall so ist. Im Englischen z.B. wird von decision maker gesprochen, d.h. der Akt des Entscheidens als aktive, willentliche Tat beschrieben, deren Konsequenz in der begrifflichen Beschreibung bedeutungslos bleibt. Der deutschen Version wohnt bereits eine moralische Verpflichtung inne, die nicht immer entscheidungsfördernd wirkt.

Da schöne chinesische Sprichwort, das da besagt, keine Zeit zu haben heißt, sich für etwas anderes zu entscheiden, trägt vom Charakter her den nächsten Kern, der hierzulande Entscheidungsprozesse in gewisser Weise entschleunigt. Bei Entscheidungen geht es nämlich nicht nur um die Frage, was durch sie bejaht, sondern auch um die, was durch sie verneint wird. Eine Entscheidung zwischen fünf Alternativen bedeutet eine Absage an vier Optionen. Letzteres verursacht schon bei vielen, die für das Entscheiden engagiert sind, einen gewissen Stress. Nein zu sagen gehört vielleicht gegenwärtig zu den größten Schwierigkeiten, vor der unsere Gesellschaft steht. Absage, Trennung, Abschied und Negation sind schicksalsbeladene, emotional überaus komplexe Gebilde, mit denen unser kultureller Kontext, der sich immer aus holistischen Weltbildern gespeist hat, nur sehr schwer umgehen an. Im Gegensatz zu dem Pragmatismus der anglophonen Welt, die dagegen gefühlsarm und extrem kalt wirkt. Vielleicht deshalb auch das Ressentiment. Hier fällt das Nein-Sagen schwerer als die Bejahung. Ein Diskurs über die Entscheidung, ihre Entstehung, die Belohnungen, wenn keine getroffen wird und die Kräfte, die sie beflügeln, steht noch aus.