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Starke Arme

Kürzlich fragte eine Tageszeitung anlässlich des bevorstehenden 65jährigen Geburtstages des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), ob es für diesen nun an der Zeit sei, in Rente zu gehen. Ob die Frage provokant gemeint war, konnte nicht ermittelt werden, da das Blatt, das mit diesem Titel die erste Seite schmückte, zu den Journalen gehört, die durch ihre Monokausalität und Penetranz dazu geeignet sind, die morgendliche Laune gleich auf einen Tiefpunkt zu befördern. Aber, und das sei zugestanden, die Überschrift regt dazu an, sich über eine der größten Gewerkschaftsorganisationen der Welt Gedanken zu machen.

Global gesehen, und anders geht es nicht mehr in unseren Zeiten, zählen die englischen und deutschen Gewerkschaften nicht nur zu den Prototypen ihrer Zunft, sie sind auch einst oder bis heute mächtig gewesen und haben sich am Lauf der Zeit abgearbeitet. Waren die englischen Gewerkschaften im Mutterland des Kapitalismus immer in erster Linie Zusammenschlüsse, die exklusiv wirtschaftliche Interessen vertraten, so konnte das deutsche Pendant immer auch politische Nuancen mit thematisieren. Letztendlich versuchte aber auch der DGB, sich nicht allzu sehr politisch zu artikulieren. Das große Verdienst, das er wohl an sein Revers heften kann, ist die Tarifautonomie, d.h. die Souveränität der verhandelnden Parteien beim Aushandeln ihrer Verträge ohne staatliche Intervention.

Gingen die englischen Gewerkschaften, die berühmten Trade Unions, endgültig mit der Zerschlagung der Reste des organisierten englischen Proletariats in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter, so hat die deutsche, mitgliedermächtige Variante stetig an Boden verloren, aber es gibt sie noch. Der DGB hat den ungeheuren Strukturwandel des bundesrepublikanischen Kapitalismus überlebt und damit bewiesen, dass er aus einer ungeheuren Stärke in diesen verlustreichen Kampf ging, bei dem nicht nur einmal über Nacht 100.000 seiner Mitglieder ihre Arbeitsplätze für immer verloren hatten. Das war kein Zuckerschlecken und vieles, was dieser Organisation angelastet werden kann, ist auch aus diesem Licht zu betrachten.

Denn der DGB hat alles hinter sich, was zur Soziologie großer Organisationen gehört: er entstand in Zeiten großer wirtschaftlicher und politischer Dynamik, hatte eine entsprechende Mitgliederschaft, die nicht nur mit den Erfolgen wuchs, sondern auch zunehmend saturiert wurde. Der Müßiggang verleitet nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen zu bestimmten Schattierungen der Dekadenz und immer wieder erschien die Eigendynamik innerhalb der Organisation wichtiger als der ursprüngliche Auftrag. Es wurde nicht mehr vorgelebt, was in den öffentlichen Verlautbarungen zum Besten gegeben wurde und mit der Diversifizierung der Wirtschaft existierten zunehmend diversifizierte Interessen, die es schwer machten, organisiert vertreten zu werden.

Und dennoch, trotz der Verdienste, derer sich viele der heutigen Nutznießer gar nicht mehr bewusst sind, und trotz der Tatsache, dass diese Organisation eine der heftigsten Krisen seit ihrer Entstehung mit der dramatischen Entwicklung des Kapitalismus überlebt hat, darf nicht nur die kritische, soziologische Sicht, sondern auch die mangelnde Strategie zitiert werden. Die Perspektive der deutschen Gewerkschaften wird in starkem Maße davon abhängen, ob es ihnen gelingt, eine Strategie zu entwerfen, die über den wirtschaftlichen Bedarf der jetzigen wie zukünftigen Mitglieder hinaus geht und politische Leitlinien beinhaltet, die sich gegen die Erosion der gesellschaftlichen Werte durch eine zunehmend spekulativ agierende Elite richtet. Unterstützt werden müssen die Gewerkschaften bei ihrem traditionellen Bemühen, die Wertschöpfung als die zentrale Aufgabe von Gesellschaften zu fokussieren. Das beinhaltet, sich gegen die hirnrissigen Täuschungsmanöver zu stellen, die von Formen des Mehrwertes faseln, der ohne Leistung entstünde. Das Sein ist etwas zu Leistendes. Und wer etwas leistet, muss das Sagen haben!

Langer Atem

Es ist ein Phänomen, das immer wieder auftaucht, ohne dass es dezidiert auffiele. Es dominiert unser tägliches Leben wie die internationale Politik. Zumindest in unserem Wahrnehmungskreis. Anderen Kulturen kann anderes bescheinigt werden. Zum Beispiel den Chinesen. Die spielen insgesamt in einer anderen Liga. Und zwar schon immer. Hierzulande war das auch einmal anders, aber das hat sich geändert mit der Art und Weise, wie wir leben und unser Leben gestalten. Es geht um die Langfristigkeit oder die Planungszyklen. Im Großen wie im Kleinen. Verlangte man noch vor ein oder zwei Genrationen von jungen Menschen, dass sie mit Eintritt ins Erwachsenenalter wussten, wie sich die Jahrzehnte des bevorstehenden Lebens gestalten sollten, so reicht heute nicht selten die Auskunft aus, mal sehen, was passiert. Das gilt als flexibel, eine nicht hoch genug zu schätzende Eigenschaft. Natürlich ist diese Entwicklung auch ein Zoll an die immer geringeren Halbwertzeiten des Bestands. Ob es allerdings reicht, darauf zu verweisen und seiner Wege zu gehen, ist eine andere Sache.

Was im Privaten mal gut gehen kann und mal fatale Folgen hat, ist in der Politik jedoch eine Malaise, die das ganze System gefährdet. Das oft schnelle Umschwenken von einer Position zur anderen, je nach Lage der demoskopischen Daten, führt nämlich zu einer stetigen Bestätigung des ausgeprägten Vorurteils in der Bevölkerung, dass die Politik ein unberechenbares Gewerbe ist, auf das weder Verlass ist noch dass ihm zu vertrauen wäre. Politikerinnen und Politiker, die sich jedoch anders verhalten, werden nicht selten genau von dieser Kritik wieder bestraft. Halten sie nämlich an Positionen fest, von denen sie überzeugt sind, dann werden sie als starrköpfig diskriminiert und sie erhalten bei der nächsten Wahl die Quittung. Es ist eine Zwickmühle. Wer Stetigkeit will, muss sich warm anziehen. Aber ohne Stetigkeit wird es keine Strategie geben, die ernst zu nehmen wäre. Die Strategielosigkeit wiederum ist aber der Zustand, den fast alle beklagen.

Richtig gefährlich wird das Leuchten der kurzen Aufmerksamkeit in der internationalen Politik und ihrem wesentlichen Handlungsfeld, der Diplomatie. Nur eine kurze Revue der letzten wenigen Jahre, quasi aus der Hüfte, gibt uns einen Eindruck von den Schlaglichtern der Aufmerksamkeit, die Reihenfolge willkürlich, und bewusst nur topographisch: Fukushima, Tunis, Tripolis, Kairo, Bahrain, Istanbul, Aleppo, Mosul, Gaza, Lampedusa, Bangkok, Kiew, Hongkong, Kobane. Es fehlen viele Orte, in denen Ereignisse stattfanden, die eine Strategie in der internationalen Politik erfordern und die in sehr starkem, beunruhigendem Ausmaß dokumentiert haben, dass das nicht der Fall zu sein scheint. Zumindest ist keine öffentlich sanktionierte Strategie zu erkennen, was der Verschwörungsformel wiederum zur Konjunktur verhilft.

Stattdessen konnte beobachtet werden, dass die Aufmerksamkeit schlaglichtartig auf ein einziges Ereignis gerichtet wird, sowohl medial als auch politisch. Dann berichten schlecht ausgebildete Journalisten irgendwelche Erlebnisse, die sehr interessengeleitet sind und die Politik wird gezwungen, auf die stets moralisierte und skandalisierte Situation zu reagieren. Das heißt dann, sie gingen auf die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ein. Das Verwirrspiel hat natürlich einen Zweck, aber von Strategie ist dennoch nicht viel zu sehen. Gestern noch waren die Demonstrationen in Istanbul weit über den Siedepunkt erhitzt, heute sind es Gefechte in der Ostukraine und morgen Polizeiaktionen in Hongkong. Und die internationale Politik wie das mediale Gefolge springen von einem Event zum nächsten. Es ist wie an der Börse. Der lange Atem ist dem Gehechel gewichen. Werte, für die es sich zu leben und Strategien, für die es sich zu kämpfen lohnt, brauchen lange Linien.

Oberbürgermeister, Strategien und Prinzipien

Städte sind das Ur-Gen demokratischer Theorie. Im Laufe ihrer Geschichte dokumentierten sie den Weg der urbanen Zivilisation mit allen Irrungen und Verwerfungen. Heutige Metropolen brillieren durch ihre Komplexität. Sie schillern in Richtung Zukunft und sie werfen düstere Schatten auf Perspektiven, die weit in die Vergangenheit zurückweisen. Angesichts ihres nie da gewesenen Zuwachses und der damit verbundenen multiplen Entwicklungsmöglichkeiten stehen die Städte von heute an einer Sollbruchstelle. So weitermachen wie bisher wird nicht ausreichen, um eine erstrebenswerte Perspektive für das Zusammenleben zu entwerfen. Dazu bedarf es mehr. Beispiele existieren.

Städte mit Entwicklungspotenzial haben in der Regel Traditionen, die von Bestand sind, weil sie den Zusammenhalt der Bürgerschaft herstellen können. Mannheim, eine in deutschem Maßstab mit gerade 400 Jahren junge Stadt, verdient seine Existenz einem Fürsten der Aufklärung: Er ließ die Stadt nach geometrischen Aspekten am Reißbrett errichten. Zur Realisierung dieses pionierhaften Projektes lud er Spezialisten aus allen Teilen Europas ein, die mit ihrer kulturellen und ethnischen Vielfalt quasi on the job das Prinzip der Toleranz konstituierten. Das Tor war geöffnet für Wellen politisch und religiös Verfolgter, es begann mit Schiller und den Hugenotten und ging über Südamerikaner aus den Bananendiktaturen bis hin zu den Syrern unserer Tage. Nicht, dass andere Städte eine derartige Tradition nicht auch in dem einen oder anderen Falle aufzuweisen hätten. Hier aber ist das Prinzip der Toleranz das wesentliche Konstitutionsprinzip.

Der heutige Oberbürgermeister war nicht nur der erste in Deutschland, der die Kommunalverwaltung dahin umgestaltete, dass sie in der Lage sein wird, die Ergebnisse ihres Handelns zu evaluieren und somit der Politik die entscheidende Rückmeldung zu geben, was mit ihren Investitionen bewirkt wurde. Das macht in Deutschland keine Kommune, kein Bundesland und auch nicht der Bund. International sind es Staaten wie Brasilien, Südafrika und Indien, die damit begonnen haben.

Des Weiteren sorgte dieser Oberbürgermeister dafür, dass die Stadt, basierend auf ihrer aufklärerischen Tradition, eine Strategie entwickelt hat, die sehr klar umreißt, wohin die Reise gehen soll. Dieser rote Faden ermöglicht es, die verschiedenen Interessengruppen zu moderieren. Projekte der Teilhabe schießen überall aus dem Boden, weil die Bürgerschaft dazu aufgefordert ist, sich einzumischen. Doch keine Rosen ohne Dornen: neben vielen kreativen und intelligenten Ansätzen existieren auch hier die Versuche, primitives Partikularinteresse zu camouflieren. Die Herausforderung an den leitenden und moderierenden Oberbürgermeister wie an die Bürgerschaft ist ein Lernprozess, der als ein konsens- und identitätsbildendes Erlebnis begriffen wird, um das Gemeinwesen nach vorne zu treiben. Die Ziele, Toleranz, Urbanität, Kreativität, Bildung und kulturelle Interaktion, sie sind die Richtschnur für die jeweiligen Programme, die Weise wird bestimmt von dem Ziel und dem Prinzip der Toleranz. Das geht alles nicht ohne Konflikte, aber es schafft eine Mentalität, die durchaus in die Zukunft weisen kann.

Demokratie in einer Bürgerkommune geht neue Wege, ohne die Legitimität der alten zu leugnen, sie registriert den Irrtum als Notwendigkeit, um die Chance der Innovation nicht zu verstellen. Und sie sieht in allen Teilen der Bevölkerung ein Potenzial, das im Sinne seiner Kernkompetenz genutzt werden kann, zum Wohle aller. Oder, wie heißt es Urkunde zu den Stadtprivilegien Mannheims aus dem Jahre 1652….“und alle ehrliche Leut von allen Nationen zu berufen und einzuladen“…das Wohl und Gedeih der Stadt zu erschaffen. Manchmal muss man nur die klugen Sätze der Vergangenheit in die Zukunft transponieren.