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Was hängen bleibt, das sind die Bilder

Was hängen bleibt, das sind die Bilder. Was Psychologen immer wieder behaupten, bestätigen auch zunehmend Historiker. Bei der Vergegenwärtigung dieser These dauert es nicht lange, und ein Bild nach dem anderen schießt durch den Kopf. Entscheidend ist natürlich die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Zeitabschnitt. Bei mir sind es, im Strom der freien Assoziationen die ersten Schritte Armstrongs auf dem Mond, der Kniefall Willy Brandts in Warschau, der Kuss des amerikanischen Matrosen mit der in seinen Armen liegenden jungen Frau in Manhattan im Mai 1945, als dort die Menschen das Ende des Krieges feierten, das Hissen der Sowjetfahne auf der Ruine des Deutschen Reichstags, die Afroamerikaner bei der Olympiade in Mexiko, als sie ihre behandschuhten Fäuste bei der Siegerehrung in den Himmel streckten, die Menschenmenge bei der Beisetzung Sartres in Paris, die Scharte, die das in die Luft gesprengte Auto des Carrero Blanco, seinerseits designierter Nachfolger Francos, in das Dach eines Madrider Hauses gerissen hatte, die tanzenden Menschenmassen auf den Belgrader Brücken, in Erwartung von NATO-Jets, die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo während des arabischen Frühlings 2011, Churchill, Roosevelt und Stalin auf der Bank in Yalta, die Tanzenden auf der Berliner Mauer, die Freiheitsstatue auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, der joggende Muhammad Ali in den Slums von Kinshasa, die in deutschen Farben angestrahlte Jesus-Figur hoch über der Copacabana in Rio de Janeiro, applaudierende Menschenmassen an den Straßen von Madrid bei der Rückkehr des Picasso-Gemäldes aus dem Exil, Fidel Castro am Rednerpult.

Die Liste ist lang, und je länger ich nachdenke, desto mehr Bilder gesellen sich dazu. Sie regen zum Denken an, sie dokumentieren aber auch die Befindlichkeit und die Blickwinkel dessen, der sich erinnert. Nie ist etwas eindeutig, alles ist im Fluss und die Bewertung dessen, was auf dem Bild erscheint, hängt immer von der historischen Situation ab. Mal gilt etwas als Glücksmoment, während es vorkommen kann, dass dasselbe Bild eine oder zwei Generationen später aussieht wie eine sehr traurige Geschichte. 

Was das Spiel mit den Bildern im Kopf so interessant und erkenntnisreich macht, ist eben diese Mehrdeutigkeit. Und selbst die Menschen, die im Hier und Jetzt im selben Raum sitzen und das Bild betrachten, sehen es anders, beschreiben es anders und bewerten es anders. Es ist eine Übung zum Lernen, die nur empfohlen werden kann. Denn eine Bildbeschreibung will gelernt sein. Zunächst geht es um eine interpretationsfreie, genaue Aufzählung dessen, was sinnlich wahrgenommen werden kann, sodass, unabhängig von den vielleicht bekannten Personen oder ohne Wissen der historischen Situation von Dritten nachempfunden werden kann, was ein kaltes Kameraauge erfasst. Und ist das einmal geleistet, kann der Diskurs beginnen, in dem die unterschiedlichen Interpretations- und Bewertungsansätze aufeinandertreffen.

Wer das übt, in zufällig zusammengestellten Kreisen, lernt Dinge, die momentan so sehr vermisst werden: Die vorurteilsfreie Beschreibung dessen, was beobachtet werden kann und im Diskurs den Perspektivenwechsel. Sehen Sie diese Anregung als eine Empfehlung zum Ausprobieren. Mehr nicht. Die Idee entstand, als mir eine Freundin, deren scharfen Verstand ich immer sehr geschätzt habe, obiges Bild schickte und mich fragte, was ich aus ihm lese. Auch das ist spannend. Vielleicht beginnen Sie damit.  

Stiefel leckend oder an der Gurgel

Churchill war nicht nur ein überaus begabter Literat und der Staatsmann, der Großbritannien durch den II. Weltkrieg führte. Bereits als blutjunger Offizier schrieb er seine Eindrücke als Begleiter der britischen Kolonialarmee in Ostafrika auf. Unter dem Titel Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi demonstrierte er, was exakte Beobachtung und politische Weitsicht zu bewirken vermögen. Noch heute, nahezu 130 Jahre später, ist es für alle, die sich seriös mit dieser Region auseinandersetzen wollen, ein Muss, Churchills Werk zu lesen. Der Mann, der vielleicht als der zivilisierte Gegenentwurf zu Hitler und Stalin gelten konnte, dem etwas Patriarchalisch-Chevalereskes anhaftete, der Tee als Damengetränk abtat und seine Zigarren mit Whiskey befeuchtete, hatte trotz aller inszenierter Theatralik einen immer scharfen Blick. Das müssen Menschen haben, deren Gabe das Schreiben zu sein scheint und darüber müssen Politiker verfügen, wenn sie es zu mehr als einer episodenhaften Erscheinung bringen wollen. Churchill bekam für seine Darstellung des II. Weltkrieges den Literaturnobelpreis 1953 und saß auf dem Sofa der Siegermächte nach Ende dieses Krieges.

In Zeiten der Polarisierung sind die Urteile über die übrigen Spieler am Tisch zumeist sehr plakativ. Darunter leidet zum einen die Präzision und das Detail, zum anderen profitiert, so die Urteilenden nicht von schräger Propaganda oder illustren Interessen geleitet sind, die Akzentuierung des Wesens von der plakativen Vereinfachung. Churchills Urteile aus dieser Zeit sind legendär. Und auch wenn vieles nicht den heutigen Maßstäben dessen entspricht, was sich die unheilige Inquisition der political correctness so alles ausgedacht hat, so oder gerade deshalb sind viele dieser Urteile von einer Beobachtungsschärfe, die nach dem zeitlichen Abstand doch in hohem Maße verblüffen.

Das Zitat, was vieles von dem, was die gegenwärtige politische Landschaft in Deutschland betrifft, in wunderbarerweise beschreibt, aber kaum den Charme eines Kompliments haben dürfte, ist die Charakterisierung der Deutschen als Wesen, die einem entweder die Stiefel lecken oder die man ansonsten an der Gurgel hat. Bei aller Skepsis gegenüber der Charakterisierung von Nationen und deren Eigenschaften, was allerdings wiederum ein Ergebnis von Individualisierung und Diversitätsverblendung gelten kann, einen wahren Kern hat Churchill mit dieser Bemerkung genannt.

Die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland werden entweder in Rahmen einer Systemimmanenz geführt, die einen servilen, zuweilen jämmerlichen Eindruck hinterlassen oder sie werden von einer Hysterie begleitet, die alles negiert, was sich ihr in den Weg stellt und eine Destruktivität verbreitet, die keinerlei Auseinandersetzung mit Andersdenkenden mehr duldet. Diese Polarisierung hat seit Bestehen dieser Nation immer zu anderen Wegen geführt als in benachbarten, vergleichbaren Gesellschaften. Das, was im Guten wie im Bösen immer wieder gleich einer Fata Morgana im gesellschaftlichen Diskurs auftaucht als die Notwendigkeit eines deutschen Sonderweges, resultiert aus dieser psychischen Anomalie von gleichzeitigem Wunsch nach Unterwerfung und Ausbruch oder Rebellion. Da ist es nicht mehr weit zum legendären kleinen Mann, der immer litt, doch nie gewann, und träumt im Bett vom Attentat…

Worunter die deutschen Auseinandersetzungen um die Zukunft bis dato immer gescheitert sind, um als konstruktive Leistungen Aufmerksamkeit zu erfahren, das ist der aus dieser Bipolarität resultierende Mangel an Zivilisation. Die gegenwärtige Entwicklung dokumentiert diese Feststellung wieder einmal in einer beängstigenden Weise. Die Systemimmanenz lähmt bis zur Kläglichkeit und das Rebellische stirbt in Egozentrik. Wie schön wäre da ein bisschen mehr Pragmatismus und Selbstvertrauen und reichlich weniger Hysterie.