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Relativierung und demokratisches Bewusstsein

Als heute Morgen in den Nachrichten die Meldung über ein Ranking der sichersten internationalen Fluggesellschaften zu vernehmen war, dauerte es nicht lange, bis sich Hörer meldeten, um das Erscheinen der Hongkonger Cathay Pacific auf Platz Eins und die Lufthansa auf Platz Zwölf ins rechte Licht zu rücken. Nein, so könne man das nicht sehen, es sei doch klar, dass Linien mit einem wesentlich geringeren Flugaufkommen besser abschneiden würden. Kürzlich, als der Skandal um VW in den USA ausgelöst wurde, gehörte es sogar zum Common Sense in Deutschland, dass man doch wisse, dass die in den Prospekten angegebenen Werte nie stimmten. Als immer mehr Flüchtlingsheime in Flammen aufgingen und Flüchtlinge attackiert wurden und in diesem Zusammenhang Kritik an Polizei und Justiz aufkeimten, kamen viele Hinweise, dass es sich um kaum relevante Ereignisse handelte. Als die Berichte über die Turbulenzen der Silvesternacht bekannt wurden, wurden die sexuellen Übergriffe in Köln mit denen auf dem Oktoberfest verglichen und somit relativiert. Kaum ein Ereignis von politischem Gewicht unterliegt nicht dieser Methodik, immer angewandt von der einen oder anderen Interessengruppe.

Selten führt die Übung der Relativierung zu einer qualitativen Weiterentwicklung des politischen Diskurses. Ganz im Gegenteil, Relativierungen befeuern die weitere Konfrontation, weil sie immer eine Seite, nämlich die geschädigte, willentlich verletzen und die andere Seite im demokratischen Gefüge zu Unrecht überhöhen. Wer eine Asylbewerberunterkunft aus politischen Motiven anzündet und damit Menschenleben aufs Spiel setzt, begeht eine Straftat. Es ist Aufgabe des Staates, der das Gewaltmonopol innehat, dafür zu sorgen, die Delinquenten einer solchen Tat dingfest zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Niemand sonst, keine vermeintlichen Menschenretter und keine sakrale Zivilgesellschaft. Sondern Polizei und Justiz.

Und ebenso verhält es sich bei Raub und sexuellen Übergriffen. Auch dort haben die Opfer das Recht auf Schutz durch die staatlichen Organe, die dafür vorgesehen sind. Weder Bürgerwehren noch Rockerbanden sind Treuhänder von Bürgerrechten. Wer mit einem solchen Unsinn sympathisiert, hat allenfalls ein psychopathologisch zu beschreibendes Verhältnis zur Staatsform.

Schlimmer jedoch als die vermeintlichen Rache- oder Schutzengel sind die Relativierer. Diese Konstituante unmoralischen Verhaltens hat in einer Nation, die historisch in ihrer jüngeren Geschichte immer wieder eine gewisse Affinität zu totalitären Weltbildern gezeigt hat, gefestigte Tradition. Die Untaten anderer Mächte der Finsternis sollten immer wieder dazu herhalten, die eigene staatsmännische Malaise zu kaschieren. Wenn die Engländer die Chinesen mit Opium vollpumpem, so die Logik, warum können wir dann nicht einmal den Hottentotten zeigen, wo der Hammer hängt? Ja, diese drastische Logik hat sich konserviert bis in unsere Tage, und jeden Tag können wir diese unappetitlichen Kostproben zu uns nehmen, denn die Medien sind voll davon.

Ein Staat, der Unterdrückung organisiert und Freiheit garantiert, hat dann eine zivilisatorische Reife erlangt, wenn er in der Lage ist, den verbrieften Konsens einer Gesellschaft gegen Angriffe von innen wie außen zu wahren. Wenn er sich für ein Partikularinteresse instrumentalisieren lässt und auf der einen Seite seine Stärke zeigt und auf der anderen Schwäche als Tugend zu verkaufen sucht, dann ist eine systemische Krise zu verzeichnen, die hoch dramatisch ist.

Es ist in hohem Maße interessant zu sehen, wer in dem derzeitigen virulenten Kontext in welcher Art argumentiert. Im Grunde ist es ein Lackmustest über die Despotiefähigkeit bestimmter politischer Gruppen. Vice versa versteht sich. Wer jetzt relativiert, hat sich enttarnt!

Kultur und Barbarei

Es ist anscheinend ein nationales Phänomen. Nicht, dass andere Länder nicht auch auf diesem Sektor aktiv wären, aber der Dunst, der in Deutschland durch das Wort Kultur erzeugt wird, ist wohl nirgendwo so dicht wie hier. Immer, wenn etwas Höheres erahnt, eine Besonderheit vermutet oder das Gute lokalisiert wird, kommt der Begriff Kultur daher wie eine Eingebung der Göttlichkeit ihrer selbst. Woran das liegt, weiß keiner so genau, wahrscheinlich liegt es an der ewigen Barbarei, die hier tatsächlich herrschte und immer wieder herrscht. Längst, als andere Völker und Nationen Europas das Stadium der Zivilisation erfolgreich erreicht hatten, gab es im mythischen deutschen Wald noch Blutopfer und allerlei andere Rituale, die bis heute erschrecken.

Ja, da gab es auch irgendwann in der Neuzeit das Land der Dichter und Denker, aber auch das war nicht so glorreich, wie heute gerne kolportiert. Es war ein Treppenwitz vor allem der Engländer und Franzosen, die lange wussten, was ein Staat ist, als sich die Deutschen noch mit einem Flickenteppich aus Fürstentümern herumschlugen, um ihrer Provinzialität zu frönen. Die Dichter und Denker waren jene, die es nicht aushielten in diesem unzivilisierten Landstrich und aus den Kellerlöchern ihren Wunsch nach Freiheit und Zivilisation herausschrien.

Und selbst nach der Nationenbildung setzte sich die Barbarei fort, Kriege und Diktaturen nehmen doch erheblichen Raum ein in den Annalen der Deutschen. Das aus der Menschenfresserei gerettete Wort der Kultur hingegen wird bemüht wie die Knoblauchknolle gegen den Vampir. Wann immer vermutet wird, die dreckige Fratze der Barbarei könne wieder zum Vorschein kommen, wird die Kultur bemüht. Und da die Barbarei überall lauert, ist der Kulturbegriff inflationiert wie nirgendwo sonst auf der Welt.

So ist es kein Wunder, dass gerade im Barbarenland alle, die es mit der Zivilisation ernst meinten, der Kunst und Kultur einen besonderen Platz einräumten. Staatliche Kulturprogramme sind in jeder Staatsform, die sich demokratisch nennt, somit Pflicht. Sie sollen das Serum gegen die Barbarei beschaffen. Abgesehen davon, dass sich viele in dem Metier redlich bemühen mögen, eines lässt der Gedanke staatlicher Kulturförderung im Dunkeln und für Kritik nicht zu: Er nimmt eine Institutionalisierung und Bürokratisierung in Kauf, die dem, was Kultur ausmacht, diametral entgegensteht.

Nicht, dass es bei diesem Urteil um eine antiquierte Definition von Kultur ginge, ganz im Gegenteil. Vieles spricht für den zeitgenössischen Ansatz, dass Kultur jede Ausdrucksform des sozialen Daseins ist. Wenn dem jedoch so ist, dann kann die behördlich organisierte Kultur nur etwas sein, was, ja, das Bild gefällt, Lichtjahre von der tatsächlich gelebten Kultur entfernt ist. Staatlich organisierte Kulturförderung ist die Antipode zur Ausdrucksform des sozialen Daseins, wie es in der Gesellschaft gelebt wird.

Deshalb ist es alles andere als verwunderlich, dass die Funktionäre staatlicher Kulturförderung der Gesellschaft so sonderlich erscheinen. Das wäre auch noch akzeptabel, wenn es nicht mündete in eine durch keinerlei Fähigkeit und Tugend generierte Arroganz, die diesem Heer alimentierter Würdenträger innewohnt. Das bisschen Bildung, mit dem sie hausieren gehen, verwechseln sie mit tiefer sozialer Erfahrung. Und jede soziale Erfahrung, und sei es die der Outcasts und Underdogs, beinhaltet mehr Kreativität und Würde, als sie diese mit überschaubaren Horizonten ausgestattete Kaste erahnen könnte. Nein, die staatlich subventionierte Kultur ist kein Schutz gegen die Barbarei. Böse Zungen behaupten, sie schafft gar eine neue.