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Innovation und soziale Kohorten

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich die siebziger oder achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf die allgemeinen Lebensbedingungen ausgewirkt haben, ist es ratsam, sich Filme aus dieser Zeit anzuschauen. Dabei sticht einiges ins Auge: insgesamt geht alles langsamer, es wird unablässig geraucht und getrunken und so etwas wie einen politisch korrekten Code scheint es nicht zu geben. Es gab anscheinend weniger Stereotypie und weniger affirmative Einstellungen zum herrschenden System. Alles war dunkler, schmutziger und weniger komfortabel. Und, eigenartigerweise, viele derjenigen, die sich an diese Zeiten erinnern können, möchten das Rad nicht zurück drehen. Letzteres zeugt davon, dass wir es zumindest in Teilen mit einer Generation zu tun haben, die aus dem Raster fällt.

Zumeist werden Generationen in der Retrospektive nostalgisch. Alles, was sie erlebt haben, erscheint Ihnen aus der Ferne revolutionär, es erforderte eine geniale wie mutige Jugend. Im Gegensatz zur Gegenwart war alles besser, was in der zynischen Formulierung zusammengefasst werden kann, dass früher alles besser war, selbst die Zukunft. Entsprechend verklärt und unkritisch ist der Blick.

Die Generation, die die siebziger und achtziger Jahre als ihre Jugend definiert, ist aus heutiger Sicht in ihrer Wahrnehmung jener Zeit tief gespalten. Während der eine Teil, der sich zu einem etablierten Mittelstand im Laufe der Jahrzehnte gemausert hat und den politischen Mainstream kontrolliert, fest davon überzeugt ist, die Geschichte in eine goldene Zeit gewendet zu haben, hat der Teil, der eine kritische Distanz zu der eigenen Existenzform hat wahren können, eine sehr reflexive Sicht. Nach ihm war sowohl die beschriebene wie die darauf folgende Zeit ein Prozess der Irrungen und Lernprozesse.

Umso erklärlicher ist es, dass ein und die selbe Generation von allen anderen wahr genommen wird als eine von Triumphalismus und Defätismus zu gleich getriebene und letztendlich als volatil und instabil begriffen wird. Zur Beruhigung muss gesagt werden, dass diejenigen einer Generation, denen die soziale Etablierung gelingt, immer zur Festschreibung der eigenen Verhältnisse tendieren und die Underdogs der Revolution treu bleiben. Zum anderen ist der Riss durch eine einzige Generation selten so tief wie der durch die hier beschriebene. Die Ursache liegt in ihren sehr unterschiedlichen Lernkapiteln und der gewaltigen Innovation aller Lebensbereiche, die mit ihr in Verbindung gebracht werden müssen.

Eine relativ alte Erkenntnis der Soziologie besagt, dass die Kluft, die zwischen der selbst erlebten Sozialisation und dem tatsächlichen Hier und Heute liegt, die Dimension der eigenen Irritation bestimmt. Aus dem Blickwinkel der folgenden Generationen ist das ein epistemologischer Glücksfall. Die nämlich relativ geringe Irritation bei den per se nicht zu den Gewinnern Gehörenden zeugt von einer gewachsenen Kritikfähigkeit bei immens rätselhaften Innovationsprozessen. Das ist neu und ermutigend. Der Umstand, dass die Profiteure des Wandels zu aggressiven, wehrhaften Apologeten des Status Quo mutiert sind, sollte nicht über das tatsächlich vorhandene Lernpotenzial in der Gesellschaft hinwegtäuschen. Wenn man so will, ist das vieles auf dem Weg zum Guten, wäre da nicht die wachsende Unfähigkeit, in historischen Dimensionen zu denken. Diesem Defizit muss das Augenmerk derer gelten, die die Korridore zum totalitären Denken wie den damit verbundenen Folterkellern des freien Geistes bereits identifiziert haben. Denn nur der historische Bezug lehrt das wahre Maß der Veränderung. Es ist mit der Weisheit verbunden, dass alles nicht an die Existenz einzelner Individuen gebunden ist.

Starke Arme

Kürzlich fragte eine Tageszeitung anlässlich des bevorstehenden 65jährigen Geburtstages des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), ob es für diesen nun an der Zeit sei, in Rente zu gehen. Ob die Frage provokant gemeint war, konnte nicht ermittelt werden, da das Blatt, das mit diesem Titel die erste Seite schmückte, zu den Journalen gehört, die durch ihre Monokausalität und Penetranz dazu geeignet sind, die morgendliche Laune gleich auf einen Tiefpunkt zu befördern. Aber, und das sei zugestanden, die Überschrift regt dazu an, sich über eine der größten Gewerkschaftsorganisationen der Welt Gedanken zu machen.

Global gesehen, und anders geht es nicht mehr in unseren Zeiten, zählen die englischen und deutschen Gewerkschaften nicht nur zu den Prototypen ihrer Zunft, sie sind auch einst oder bis heute mächtig gewesen und haben sich am Lauf der Zeit abgearbeitet. Waren die englischen Gewerkschaften im Mutterland des Kapitalismus immer in erster Linie Zusammenschlüsse, die exklusiv wirtschaftliche Interessen vertraten, so konnte das deutsche Pendant immer auch politische Nuancen mit thematisieren. Letztendlich versuchte aber auch der DGB, sich nicht allzu sehr politisch zu artikulieren. Das große Verdienst, das er wohl an sein Revers heften kann, ist die Tarifautonomie, d.h. die Souveränität der verhandelnden Parteien beim Aushandeln ihrer Verträge ohne staatliche Intervention.

Gingen die englischen Gewerkschaften, die berühmten Trade Unions, endgültig mit der Zerschlagung der Reste des organisierten englischen Proletariats in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter, so hat die deutsche, mitgliedermächtige Variante stetig an Boden verloren, aber es gibt sie noch. Der DGB hat den ungeheuren Strukturwandel des bundesrepublikanischen Kapitalismus überlebt und damit bewiesen, dass er aus einer ungeheuren Stärke in diesen verlustreichen Kampf ging, bei dem nicht nur einmal über Nacht 100.000 seiner Mitglieder ihre Arbeitsplätze für immer verloren hatten. Das war kein Zuckerschlecken und vieles, was dieser Organisation angelastet werden kann, ist auch aus diesem Licht zu betrachten.

Denn der DGB hat alles hinter sich, was zur Soziologie großer Organisationen gehört: er entstand in Zeiten großer wirtschaftlicher und politischer Dynamik, hatte eine entsprechende Mitgliederschaft, die nicht nur mit den Erfolgen wuchs, sondern auch zunehmend saturiert wurde. Der Müßiggang verleitet nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen zu bestimmten Schattierungen der Dekadenz und immer wieder erschien die Eigendynamik innerhalb der Organisation wichtiger als der ursprüngliche Auftrag. Es wurde nicht mehr vorgelebt, was in den öffentlichen Verlautbarungen zum Besten gegeben wurde und mit der Diversifizierung der Wirtschaft existierten zunehmend diversifizierte Interessen, die es schwer machten, organisiert vertreten zu werden.

Und dennoch, trotz der Verdienste, derer sich viele der heutigen Nutznießer gar nicht mehr bewusst sind, und trotz der Tatsache, dass diese Organisation eine der heftigsten Krisen seit ihrer Entstehung mit der dramatischen Entwicklung des Kapitalismus überlebt hat, darf nicht nur die kritische, soziologische Sicht, sondern auch die mangelnde Strategie zitiert werden. Die Perspektive der deutschen Gewerkschaften wird in starkem Maße davon abhängen, ob es ihnen gelingt, eine Strategie zu entwerfen, die über den wirtschaftlichen Bedarf der jetzigen wie zukünftigen Mitglieder hinaus geht und politische Leitlinien beinhaltet, die sich gegen die Erosion der gesellschaftlichen Werte durch eine zunehmend spekulativ agierende Elite richtet. Unterstützt werden müssen die Gewerkschaften bei ihrem traditionellen Bemühen, die Wertschöpfung als die zentrale Aufgabe von Gesellschaften zu fokussieren. Das beinhaltet, sich gegen die hirnrissigen Täuschungsmanöver zu stellen, die von Formen des Mehrwertes faseln, der ohne Leistung entstünde. Das Sein ist etwas zu Leistendes. Und wer etwas leistet, muss das Sagen haben!