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Der Elefant und die Amöbe

Wie überlegen fühlte sich der Westen, als die sozialistischen Systeme im Einflussbereich der Sowjetunion in die Knie gingen. Hatte sich da nicht wieder einmal bewahrheitet, dass der Kapitalismus das bessere System war? Und war jetzt nicht auch dem größten Skeptiker deutlich geworden, dass der freie Markt das entscheidende Regulativ war und ist? Und war nicht überdeutlich geworden, dass die von den Vertretern des Sozialismus gepredigte Planungsrationalität nichts als eine bürokratische Phantasmagorie war?

In vielem liegt wie immer ein Körnchen Wahrheit. Ja, der Kapitalismus reagiert schnell auf sich ändernde Bedingungen. Ja, der Markt ist dabei der Katalysator. Und ja, planende Bürokraten können das Schlimmste sein, was sich Gesellschaften selbst antun. Wahr ist aber auch, dass der Kapitalismus, der über den real existierenden Sozialismus obsiegte, einer war, dem aus kompetitiven Gründen an den direkten Nahtstellen zum feindlichen System die Stacheln gezogen worden waren. Und wahr ist auch, dass dieser historische Kapitalismus mehr Planung einsetzte als jemals wieder danach. Der historische Kapitalismus aus den Zeiten der Konkurrenz mit den sozialistischen Staaten hatte etwas die Farbe von seinem Konkurrenten angenommen.

Seither ist jedoch vieles anders geworden. Der Kapitalismus glaubte obsiegt zu haben, der amerikanische Politologe Francis Fukuyama schrieb bereits vom Ende der Geschichte und die globale, kapitalistische Ökonomie gewann an Fahrt und zeigte schon sehr bald ihr reines Gesicht. Expansionismus, Ressourcenraubbau, maximale Ausbeutung, Demontage von Gemeinwesen, Zerstörung der Ökologie. Die Welt wurde zum Casino und die Weltfinanzkrise von 2008 brachte es soweit, das herrschende Imperium mächtig zu erschüttern. Und der angeschlagenen Weltmacht USA standen plötzlich ein neuer Gigant gegenüber, der zwar der kapitalistischen Denk- und Arbeitsweise sehr viel Spielraum gab, aber sowohl das Privateigentum an Produktionsmitteln in allen strategischen Bereichen eine Abfuhr erteilte als auch die Planungsrationalität in einer Dimension hochhielt wie kein Land zuvor: China!

Und wie die Geschichte so spielt, die Feinfühligen unter den westlichen Besserwissern beginnen allmählich zu begreifen, dass die mittlerweile nicht mehr von der Hand zu weisende strategische Überlegenheit Chinas unter anderem an dem Planungshorizont liegt, der dort gepflegt wird. Hier, im kapitalistischen Westen, planen nur die Think Tanks, und zwar die Aufteilung der Welt, in China jedoch wird der Aufbau des Landes über Generationen geplant. Jede Fabrik, jedes Unternehmen und jede Behörde entwickelt eine Vorstellung davon, wo man in fünf und zehn Jahren, aber auch, wo man in ein oder zwei Generationen stehen will.

Während wir es gewohnt sind, dass maximal in Wahlperioden von vier oder fünf Jahren gedacht wird! Wenn es ungünstig läuft, und das ist nicht selten die Regel, dann sind genau die formulierten Ziele und die ergriffenen Maßnahmen zu ihrer Erreichung nach einer Wahlperiode bereits wieder Makulatur und der Kreisel dreht sich von neuem. Wie sich in diesem Milieu ein Terminus wie die Nachhaltigkeit hat etablieren können, bleibt rätselhaft. Fest steht jedoch, wenn eine Perspektive wie die Nachhaltigkeit von Entwicklung eine gesellschaftliche Rolle spielen soll, dann ist die Einführung von mehr Planungsrationalität und andere Planungshorizonte dringend vonnöten. Es sieht ganz so aus, als werde der Kapitalismus aus Selbsterhaltungstrieb dazu genötigt, etwas aus dem sozialistischen Instrumentenkasten zu entwenden.

Das Bild, das sich allerdings aufdrängt, das Verhältnis von China zum alten Kapitalismus zu beschreiben, könnte betitelt werden als „Der Elefant und die Amöbe“.

Türkisch-brasilianische Analogien

Innerhalb der letzten zwei Wochen haben zwei Länder von sich reden gemacht, die in der letzten Dekade mit sehr unterschiedlichen Philosophien versucht haben, sich zu modernisieren. Zum einen handelt es sich um die Türkei, die nun wegen der Proteste auf dem Taksim Platz, die eine Kettenwirkung auf das ganze Land hatten, in die Schlagzeilen geraten war. Zum anderen geht es um Brasilien, wo wegen der Austragung des Confed Cups Hunderttausende ihren Unwillen mit der aktuellen Politik zum Ausdruck brachten. In Istanbul war der Anlass ein Bauprojekt, dem ein Park zum Opfer fallen soll, in Sao Paulo und Rio de Janeiro ging es um den Testlauf für die Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2014 und die damit verbundenen Belastungen des Staatshaushalts.

Die Gemeinsamkeit beider Länder besteht in dem Versuch, sie in großem Maße zu modernisieren. Auf der einen Seite versucht das Präsident Tayyep Erdogan seit einem Jahrzehnt mit einer technokratischen Note, gestützt auf konservativ-islamische Eliten, auf der anderen Seite die Präsidentin Dilma Rousseff als Nachfolgerin des legendären Lula da Silva, die aus dem gewerkschaftlich-sozialistischen Milieu stammt und stark auf staatsinterventionistische Maßnehmen vertraut. Die dortigen Modernisierungseliten kommen folglich aus dem politischen Funktionärswesen.

Während Brasiliens Präsidentin sehr früh auf den mit Wucht einsetzenden Protest so reagierte, dass sie die Nation aufforderte, den vornehmlich jungen Protestanten gut zuzuhören, weil diese etwas zu sagen hätten, vermutete der türkische Präsident hinter den Demonstranten sofort einen internationalen Komplott. Beide Reaktionen sagen etwas aus über das eigene Politikverständnis. Hier die demokratisch sozialisierte Gewerkschafterin, die um ihre Abhängigkeit von demokratischen Entscheidungsprozessen weiß, dort der autokratische Macher, der demokratische Prozesse allenfalls als ein notwendiges Übel begreift, um sich international sauber legitimieren zu können, der aber anscheinend auch aus machtpolitischem Kalkül gewillt ist, darauf zu verzichten, wenn er seine Position mit anderen Gewalten gesichert werden kann.

Interessant ist, dass sowohl der türkische als auch der brasilianische Modernisierungsprozess die Rechnung sowohl ohne die industriellen als auch die kreativen Klassen in den Metropolen gemacht haben. Weder die islamisch-autokratische noch die etatistisch-sozialistische Dominanz haben bei dem Tempo des Wandels vermocht, die Dimension einer integrierenden Wirkung zu erreichen, die erforderlich gewesen wäre, um die politisch-kulturellen Justierungen vorzunehmen, die bei einem solchen Prozess erforderlich sind. Obwohl die Probleme beider Länder nicht vergleichbar sind, existieren Analogien, die bei der Betrachtung des gesellschaftlichen Wandels von hohem Interesse sein müssen.

Bei aller Kritik, die aus der Ferne nun aufkommt, darf man nicht außer Acht lassen, dass in beiden zu betrachtenden Ländern von großem wirtschaftlichen Erfolg gesprochen werden muss, wenn die Wirkungsdaten der Modernisierung auf den Tisch gelegt werden. Die Türkei ist wirtschaftlich so stark wie nie im 20. Jahrhundert und Brasilien hat es vom lateinamerikanischen Hinterhof zu einem globalen Wirtschaftsgiganten gebracht. Die große Zustimmung zur Politik der Modernisierung hielt in beiden Ländern so lange an, wie die Teilhabe daran zumindest in Aussicht gestellt blieb. Und bevor sich neu heraus gebildete Eliten zu Horten der Korruption entwickelten und neue Klassen, die entstanden, die sich aus Modernität und Internationalität definierten, keine Möglichkeit der politisch adäquaten Artikulation erblickten.

Die Reaktion der beiden Staatsführungen lassen allerdings erste Prognosen über die Zukunft der jeweiligen Projekte zu: Während Erdogan mit martialischer Spaltung der Gesellschaft droht, setzt Rousseff auf den Dialog. Wenn bei Modernisierungsprojekten aufgrund der rasenden Entwicklung gesellschaftliche Justierungen erforderlich werden, bleibt Demokratisierung das probateste Mittel.