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Das Absingen schmutziger Lieder aus der Ferne

Marshall McLuhans zentrale Botschaft sei noch einmal auf den Prüfstand gelegt: Das Medium ist die Botschaft! Vieles spricht dafür und wenn dem so ist, dann trifft das genauso auf die sozialen Medien zu. Die Faszination, die sie ausüben, ist die nahezu banale Bedienung und die Überwindung von Raum und Zeit. So können nicht nur tatsächliche, sozial unmittelbar entstandene Kontakte gehalten und gepflegt, sondern auch zufällige, artifizielle Beziehungen hergestellt werden. Plötzlich sind die einzelnen Teilnehmer nicht mehr angewiesen auf die Möglichkeiten wie Barrieren einer direkten Begegnung. Ein feuchter Händedruck, olfaktorische Penetranz, ein unsicher Blick oder eine quäkende Stimme, das alles belastet nicht mehr bei der Kontaktaufnahme und es verlangt ganz andere Fähigkeiten, die eine oder andere individuelle Malaise in der virtuellen Welt zu dechiffrieren.

Das Eigentliche, worüber jedoch reflektiert werden muss, das ist die Reduktion der sozialen Komplexität, die das soziale Medium herstellt. Da geht es schlicht um binäre Entscheidungen über Profanes. Mögen oder Nicht-Mögen. Da stellt jemand ein Bild von einem Essen auf seinen Account, und schon reagieren die Freundinnen und Freunde darauf mit einem Mögen oder Nicht-Mögen. Im direkten sozialen Kontakt wäre eine solche Disposition zweifelhaft. Wer fragt schon, wenn ihm sein Essen serviert wird, die sich in der Nähe befindlichen Menschen, ob ihnen das gefällt, was er auf dem Teller hat? Zumindest würden einige Umstehende ihr Befremden zum Ausdruck bringen. Die Reihe lässt sich fortsetzen, zum Beispiel das Posten von Selfies. In der direkten sozialen Konfrontation wäre das Risiko, eine Debatte über die eigene Eitelkeit auszulösen, viel zu groß.

Doch die eigentliche Veränderung, die durch die sozialen Medien erfolgt, ist die Veränderung des Diskurses in eine Abfrage reflexartiger Zustimmung oder Ablehnung. Durch die Reduktion von Komplexität auf Mögen oder Nicht-Mögen verschwindet die Auseinandersetzung um komplexere Lebensperspektiven nicht nur aus den Köpfen, sondern es sinkt auch die Fähigkeit, dieses zu tun. Diejenigen, die mit den sozialen Medien, deren Fähigkeit, die einzelnen Mitglieder mikroskopisch auszuspionieren hier nicht betrachtet werden soll, aufwachsen, haben in einem echten Dialog, der nicht nur aus einem sozialen Konsens besteht, keine Chance. Wer die Möglichkeit des Widerstandes gegen die eigene Meinung oder den eigenen Standpunkt nicht kennt, der hat auch nicht gelernt, um ein Thema in verschiedenen Variationen zu kreisen, die Perspektive zu verändern und, das wohl wichtigste, sozialem Druck standzuhalten.

Die sozialen Medien sollen damit nicht verdammt werden. Sie sind nicht mehr wegzudenken. Aber sie sollten mit ihrer verheerenden Wirkung auf die Diskursfähigkeit der ganzen Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Ein Indiz für die Unterlassung kritischer Sicht und die Ergreifung notwendiger Maßnahmen dagegen ist das tatsächliche Schwinden kontroverser Betrachtungen. Genauer gesagt, die unterschiedlichen Standpunkte verschwinden nicht, aber die Fähigkeit, sich in einer harten, aber sozial akzeptablen Form darüber auseinanderzusetzen. Mit der Abnahme der Fähigkeit, sich sozialem Druck zu stellen und die eigenen Motive freizulegen und offen zu verteidigen, ist die Fähigkeit der Diskreditierung und Diffamierung gestiegen. Um es deutlich auszudrücken: Das Absingen der berühmten schmutzigen Lieder aus der Ferne ist der neue Weltsport geworden, während der Streit mit dem vis-a-vis kaum noch beherrscht wird. Das gilt im Privaten wie in der Öffentlichkeit, das betrifft den berühmten kleinen Mann wie den Amtsträger. Und das wirkt schlimmer als militärisches Equipment. Das kommt zur Geltung, wenn der Diskurs misslungen ist.