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Im Hafen der Einsamkeit

Das Phänomen ist allen bekannt. Es geht um soziale Beziehungen. Sie entstehen und vergehen wie alles im Leben. So ist das nun einmal. Was aber immer wieder überrascht, sind die Umstände, wie sie zu Ende gehen. Entstehen tun sie zumeist aus Zufall. Da begegnet man Menschen bei irgend einer Gelegenheit, oder man teilt mit ihnen eine bestimmte Phase der Biographie und es entsteht so etwas wie eine gemeinsame Wellenlänge. Oder es sind gravierende Unterschiede, die so markant sind, dass sie das gegenseitige Interesse erwecken. Uns so entwickelt sich eine Bindung, die für einen bestimmten Zeitraum Bestand hat. Was in derartigen Anbahnungsstadien selten bewusst ist, das ist das Temporäre. Gedanken darüber entstehen zumeist erst dann, wenn die gemeinsame Zeit vorbei ist.

Ohne zu diffizil mit der Frage umgehen zu wollen, sei erlaubt festzustellen, dass in der Regel gemeinsame Interessen das leitende Motiv einer sozialen Beziehung sind. Solange diese Grundlage gegeben ist, scheint auch der Bestand gesichert. Und wenn das gemeinsame Interesse nicht mehr zugrunde liegt, dann brechen selbst Beziehungen auseinander, die Jahrzehnte gehalten haben. Das Besondere am Leben ist eben doch die jeweilige individuelle Entwicklung, die immer wieder bestimmte Bedürfnisse und Reize hervorruft, die manchmal eben auch nicht teilbar sind.

Was herauszuhören ist, wenn vor allem lange und sehr lange soziale Bindungen zu ihrem Ende kommen, ist zumeist eine große Enttäuschung und Verbitterung. Manchmal ist der Anlass für die Entscheidung, einen eigenen, anderen Weg zu gehen und ihn nicht mehr mit einem bestimmten Individuum teilen zu wollen, derartig lapidar, dass es die abgewiesene Seite als ihrer nicht würdig betrachtet. Das lässt sich nachvollziehen, unterliegt aber einem Trugschluss. Anlass und Ursache liegen besonders im Falle sozialer Bindungen weit auseinander. Da hat sich in der Regel schon seit langer Zeit eine Dissonanz ergeben, über die die Sozialpartner lange hinweggesehen haben, aber irgendwann nimmt diese Dissonanz eine Dimension an, die zumindest eine Seite nicht mehr ertragen kann.

Eine der klügsten Begründungen, die mir in einem solchen Fall einmal untergekommen ist, war der Satz „es ist, wie es ist.“ Damit wurde nicht versucht, den Stellenwert der Langlebigkeit sozialer Bindungen zu überhöhen. Es geht nicht darum, Menschen, die den Verlust einer sozialen Bindung zu beklagen haben, zu trösten. Denn das haben sie nicht nötig, wenn sie ihr Leben an dem ausrichten, was es ist: Eine Reise, die über verschiedene Orte und Meere geht, die für Personen, soziale Arrangements und lokale Spezifika stehen, und die irgendwann dort endet, wo alles anfing: Im Hafen der Einsamkeit.

Wer sich dessen bewusst ist, der weiß mit dem wertvollen Gut der sozialen Bindung, das sehr zerbrechlich und vergänglich ist, dennoch umzugehen. Er oder sie weiß und wird wissen, dass der Augenblick der eigenen Existenz ebenso vergänglich ist wie alles, was mit ihr zusammenhängt. Da es sich dabei um eine Faktum handelt, das weder durch wissenschaftliche oder technische Entwicklungen in seinem Wesen veränderlich ist, warum sich darüber grämen? Es ergibt keinen Sinn.

Glück ist der Zustand, in dem das Individuum mit sich und seinen Wünschen im Einklang steht. Das gelingt nicht, wenn das Leitmotiv aus Trugschlüssen besteht.

Maslows Vermächtnis

Nicht nur der 1908 in Brooklyn geborene Abraham Maslow hatte eine Vorstellung von den Motivationslagen des Menschen. Im Rahmen seiner Arbeiten zur humanistischen Psychologie entwickelte er jedoch ein Schema, dass bis heute eine gute Orientierung darüber liefert, wo sich Menschen und Gesellschaften befinden. Berthold Brecht, der große Zuspitzer und Vereinfacher, hatte das Maslow´sche Schema auf den Punkt gebracht: Erst kommt das Fressen, so hieß es bei ihm, dann kommt die Moral. Maslow war da anders vorgegangen, hätte sich aber kaum gegen die Brecht´sche Pointierung gewehrt.

Maslows Ausführungen, die in die Geschichte als Bedürfnispyramide eingegangen sind, können wie folgt zusammengefasst werden: Bevor sich der Mensch mit dem befasst, was ihn als kulturelles und zivilisiertes Wesen ausmacht, müssen bestimmte Bedürfnisse gesichert bzw. befriedigt werden. In Stufen bedeutet dieses in besagter Pyramide, dass zunächst Grund- und Existenzbedürfnisse befriedigt werden müssen, danach die Sicherheit gewährleistet sein muss und dann erst das Sozialbedürfnis zur Geltung kommt. Ist das alles geschehen, treten Wünsche nach Wertschätzung und zu guter Letzt die Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Aus heutiger Sicht klingt das alles andere als sensationell, als Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist die Anwendung der Pyramide allerdings eine brisante Angelegenheit.

Es ist ein Screening wert: Welche Themen auf den Titelblättern der wichtigsten Tageszeitungen, welche Themen in den digitalen Nachrichtenkanälen beschäftigen sich in unserer Sphäre eigentlich mit welchen Stufen der Maslow´schen Bedürfnispyramide? Ganz so einfach, wie zunächst zu vermuten wäre, ist es nämlich nicht. Die gegenwärtige Gesellschaft ist kein homogenes Gebilde, dem man eindeutige Charaktermerkmale zuweisen könnte. Bezogen auf die Nachrichtenmagazine kann eine Tendenz ausgemacht werden, die bis auf die Stufe der Grund- und Existenzbedürfnisse alle Fragen abdeckt. Es scheint davon abzuhängen, unter welcher Rubrik die Sache beleuchtet wird.

Bezogen auf die unterschiedlichen sozialen Gruppen und Klassen ist die Sache jedoch klar: wenn Jobs vorhanden sind, dann geht es mehr um Wertschätzung und Anerkennung und je besser sie sind, desto mehr geht es um Selbstverwirklichung. Die, die keine Arbeit haben, die finden meistens gar nicht statt, dass es denen allerdings zunächst um die Sicherung der Grundbedürfnisse gehen wird, liegt auf der Hand. Gesamtgesellschaftlich spielt das Thema Sicherheit eine Sonderrolle, was keine Frage des sozialen Status, sondern eine des biologischen Alters der Gesellschaft ist. Je älter die Population, desto mehr fürchtet sie um ihre Sicherheit.

Betrachtet man die Themen in besagten Kanälen, so ist sehr schnell zu erfahren, dass unsere Gesellschaft gehörig altert, dass sie die tatsächlich vorhandene Kohorte derer, die um die Existenz kämpfen, konsequent ignoriert und dass die Form von Herrschaftsideologie darüber kommuniziert wird, wie Wertschätzung und Selbstverwirklichung erlangt werden können. Saturiert wäre ein Attribut, das für den Status Quo zuträfe, wäre da nicht das Phänomen der Tabuisierung. Denn die Ignorierung der Mittellosigkeit betrifft nur einen, allerdings nicht zu unterschätzenden Teil der Gesellschaft, aber die Frage nach dem Sozialbedürfnis betrifft alle. Letzteres ist in der Ära der Digitalisierung einer Deprivationsoffensive ausgesetzt gewesen, wie sie vorher noch nie in der Geschichte stattgefunden hat. In einer Gesellschaft, die ihren gesamten Wohlstand dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu verdanken hat, ist es verständlich, dass die Vorbehalte gegen die Technisierung der sozialen Beziehungen nicht so groß waren, wie die angerichteten Verheerungen es verdient hätten. Das Kommunikationszeitalter hat das mittlere Glied aus Maslows Pyramide geschossen und alle starren ins Leere.