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Die Doktrin des Regimewechsels

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die amerikanischen Falken berauscht von dem Terminus, dem Modell und der Philosophie des Regimewechsels. Das, was tatsächlich in der Sowjetunion passierte und was in vielen mit dieser assoziierten Staaten vonstatten ging, war das Ergebnis eines langen Erosionsprozesses, der durch die durch den militärischen Konflikt immens steigenden Kosten beschleunigt wurde. Die Vorstellung einer zentral organisierten Planwirtschaft und die sich längst etablierte Vorstellung von einer zentralistischen Steuerung der Gesellschaft hatte das Gegengewicht gegen den Zentralismus, den Rätegedanken, längst verspeist. Die Entwicklung wurde auch in Bezug auf die gesellschaftliche Teilhabe großer Teile der Bevölkerung immer ruinöser. Die Folge war die physische wie psychische Massenflucht und der Niedergang dieses Modells.

Die Ursache für die Erosion des Sozialismus war nicht die ungeheure Attraktion des Kapitalismus und der westlichen Demokratien. Nach ihnen sahen sich jedoch diejenigen, die dem alten Zentralismus und staatlichen Despotismus entflohen waren, hilfesuchend um. Mangels einer eigenen Programmatik für die eigene Zukunft konnte der Westen in dieses Vakuum eindringen und sein eigenes Paradigma etablieren. Bis heute, 25 Jahre später, drängt sich der Eindruck auf, dass das Modell, das in diesen Gesellschaften zumeist etabliert ist, wie ein Fremdkörper über den Köpfen hängt und sich in den Zonen außerhalb der neuen Legalität andere, tatsächlich greifende, informelle Verkehrsformen entwickelt haben, die für das neue, herrschende System ebenso gefährlich werden können wie zu Zeiten des strahlenden Zentralismus. Russland zählt übrigens nicht zu diesen Ländern, weil es mit dem Ende Jelzins diese Entwicklung angehalten hat.

Dennoch: die amerikanische Maxime lautet seit dem Ende der Sowjetunion Regimewechsel. Gleich einem Mantra wird dieser Terminus wiederholt und überall, wo eine Inkongruenz zwischen den vermeintlichen Interessen der USA besteht, wird das Wort aus dem Arsenal geholt und mit einem längst erprobten Instrumentarium in Anwendung gebracht.

In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten wurden unzählige Regierungen gestürzt und neue Regierungen etabliert. Oft traf es auch schlimme Despoten, aber in nahezu allen Fällen wurden die Lebensverhältnisse für große Teile der Bevölkerung noch schlechter. Die alten Despoten wurden entweder durch einen noch größeren Despoten ersetzt oder das Gemeinwesen wurde radikal enteignet, alles privatisiert und die Kluft zwischen Arm und Reich in kosmische Dimensionen getrieben. Das Fazit der von den USA betriebenen Regimewechsel ist desaströs und alle, die sich im Tross dieses zerstörerischen Programmes bewegen, tragen ihre Verantwortung für die immer stärker um sich greifenden Folgen. Massenemigration ist eine davon. Die mehr und mehr um sich greifende Theorie, dass das Ziel der amerikanischen Doktrin des Regimewechsels nicht der jeweils tatsächliche Wandel zum Besseren, sondern in der gesamten Orchestrierung in dem Erzeugen von Chaos bestehe, gewinnt immer mehr Plausibilität und Logik. Kein Wunder, dass die Skepsis weltweit wächst.

Unabhängig von der Doktrin einer Hegemonialmacht, die zum Ausdruck bringt, wie man sich dort die Beherrschbarkeit der Welt vorstellt, lässt sich auch ein Lehre aus dem ziehen, was mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann und vielleicht im arabischen Frühling endete. Bewegungen, die das eigene, despotische Regime bekämpfen und die nach einem anderen Gesellschaftsformat streben, sind gut beraten, eine eigenes Modell und eine eigene Vorstellung von der neuen Gesellschaft und ein Programm für die eigene Vorgehensweise zu entwickeln. Andernfalls schaffen sie, selbst wenn sie zunächst erfolgreich sind, ein Vakuum, in das der Beelzebub jubilierend eindringt.

Journalistische Erlebniswelten

Hugo Portisch. Aufregend war es immer

Die Art und Weise, wie die namenlosen Zeitzeugen ihre Geschichte erlebt haben, geht sehr oft in der Vergessenheit verloren. Die mündliche Erzähltradition hat mit den Berufsgruppen, aus denen sie erwachsen ist, zumeist ihre Kontinuität verloren. Längst passé die Zeit der fahrenden Gesellen, die mit ihren Geschichten ein Sittenbild der Gesellschaft mit entwarfen, längst passé die Zeit der familiären Überlieferung, in der abends in der Küche die Eltern den Kindern erzählten, mit welchen Geschichten sie selbst aufwuchsen. Das, was heute in Bezug auf die konkret erlebte Geschichte geblieben ist, sind die Informationsschnipsel in den sozialen Netzwerken, die zumeist geographische Angaben und Bildmaterial hinterlassen, und selten so etwas wie soziale Erfahrung kolportieren.

Existieren keine Geschichten über die konkret erlebte Geschichte, dann bleiben die Werke der Historiker, deren Anspruch genau die subjektive Tönung ausklammert und in einer Sprache verfasst sind, die Distanz und Langeweile produzieren. In diesem Kontext sind Dokumente von Zeitzeugen vielleicht die letzten Medien, die in der Lage sind, eine Brücke zwischen historischer Faktizität und Erlebniswelten zu schlagen. Die österreichische Journalistenikone Hugo Portisch, mittlerweile 88 Jahre alt, hat nun Erinnerungen zu Papier gebracht, die dieser Kategorie zugerechnet werden können. Unter dem Titel „Aufregend war es immer“, der bereits seine Stärke beschreibt, erzählt er über seinen Werdegang als Journalist im Österreich nach dem II. Weltkrieg und seinen mit dem Beruf verknüpften Erlebnissen in den folgenden Dekaden bis heute.

In einem unterhaltsamen Erzählstil erfährt die Leserschaft sehr viel über den Übergang Österreichs von einem Anschlussstaat des Dritten Reiches über eine Besatzungszone bis hin zu einem souveränen Staat. Da ist in vielerlei Hinsicht auch aus deutscher Perspektive interessant, denn der Staatsvertrag, der die Souveränität besiegelte, ist hier bis heute ein nicht einmal mehr formulierter Traum. Aber auch die Einblicke, die Portisch auf seinen unterschiedlichen Stationen als Journalist erhielt, sind aus heutiger Sicht sehr interessant. Innerhalb Österreichs zum Beispiel der Versuch der großen Parteien mittels eines ausgehandelten Proporzes die öffentlich rechtlichen Medienanstalten zu okkupieren und die damit verknüpften, erfolgreichen Initiativen der Presse, diese Vereinnahmung zu verhindern. Oder die Rundreise durch die USA, in der die jungen Journalisten des Anschlussstaates einen Einblick in den eine Demokratie kontrollierenden Journalismus erhielten. Das war vor den Zeiten, als auch dort das Konzept des Embedded Journalism der Freiheit ein Ende bereitete.

Ebenfalls kurzweilig erzählt erhält die Leserschaft einen Einblick in die Denkweise der sowjetischen Administration während des Kalten Krieges, die Besonderheiten des kubanischen Sozialismus und das amerikanische Desaster in der dortigen Schweinebucht, die Konzepte der aufsteigenden neuen Supermacht China, die Motive und Operationsweise des vietnamesischen Vietcong, die Verwicklungen der westlichen Entwicklungspolitik auf dem afrikanischen Kontinent, die innere Logik der amerikanischen Atomstrategie und die mutierenden Spezifika eines neu aufflammenden Ost-West-Konfliktes.

Die Erzählungen Hugo Portischs werden getragen von dem Willen, seine Erfahrungen einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Insofern sind sie ein gut lesbares historisches Dokument, dessen Qualität nicht zu unterschätzen ist. Die Leserschaft hat dennoch die Gelegenheit wie das Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden. In dem einen oder anderen Fall sind die Schlussfolgerungen des Autors auch nicht die, die jeder favorisieren muss. Aber so ist das nun einmal mit persönlichen Erfahrungsberichten. Wer sich für die Weltpolitik der Zeit nach dem II. Weltkrieg bis heute interessiert, findet in „Aufregend war es immer“ eine sehr unterhaltsame und informationsreiche Lektüre.

8. Mai 1945

Zum Tode Richard von Weizsäckers klang vieles noch ganz anders. Da wurde ein Staatsmann gewürdigt, der einem anderen, neuen Deutschland in der Welt Vertrauen verschafft hatte. Die Schlüsselszene, so die vielen Nekrologen, die Weizsäcker zu diesem Ruf verholfen hatte, war eine Rede seinerseits im deutschen Parlament anlässlich des 8. Mai 1945. Da hatte der von Haus aus Konservative den für ihn und viele anderen Landsleute revolutionären Satz ausgesprochen, der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen. Und er ließ bei seiner Interpretation keine weitere Deutung zu: Die Befreier waren Amerikaner wie Russen, Briten wie Franzosen. 

Nun, wenige Zeit später, da sich der 8. Mai, der Tag der Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten zum siebzigsten Male jährt, treten viele aus den Requisiten und beginnen mit einer eigenartigen Choreographie. Sie üben sich an Figuren, die Analogien herstellen sollen zu dem damaligen historischen Bild. Ziel der Veranstaltung ist es, die Aufstellung der damaligen Kräfte auf die heutige Zeit anzuwenden. Und, welch Wunder, geopolitisch hat sich die Lage grundsätzlich verändert. Die Bösen und durchaus mit den Faschisten zu vergleichenden sind jetzt Putins Russen und die Guten sitzen allesamt im Westen. 

Was da zusammengetragen wird, ist nicht nur wegen der historisch bedenklichen Vergleiche grotesk, wenn die Operation Barbarossa mit der Unterstützung der Ostukraine durch Russland gleichgesetzt oder die Rückholung der Krim via Volksabstimmung mit der Besetzung Sudetendeutschlands durch die Nazis verglichen wird. Noch bestürzender als der Unfug ist die Tatsache, dass sich die renommiertesten deutschen Historiker an diesen unseriösen Übungen federführend beteiligen. Politisch wird damit dokumentiert, wie weit die massenpsychologische Hirnwäsche hierzulande fortgeschritten ist.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Deutschland war Zentrum des Faschismus. Von ihm gingen der Holocaust wie die Vernichtungsfeldzüge aus. Aus eigener Kraft konnte sich Deutschland nicht befreien. Das hatte viele Ursachen, die Zerschlagung der Opposition und die Gleichschaltung der Presse. Einen historischen Vergleich zu der Barbarei des deutschen Nationalsozialismus gibt es im modernen Europa nicht. 

In der gegenwärtigen Situation existieren sehr unterschiedliche Interessen in Europa. Ebenso herrschen große Unterschiede in der Auffassung nach welchen Werten und Kriterien Staaten aufzustellen sind. Die unterschiedliche Sicht auf das eigene wie das jeweilige andere Staatswesen hat etwas mit einer sehr langen historischen Entwicklung zu tun. Alle europäischen Nationen führen besser, wenn sie sich um die Missstände im eigenen Land kümmerten und gleichzeitig versuchten, auf dem Wege der Diplomatie nach Wegen der Verständigung untereinander zu suchen. Sowohl der beschriebene Blick nach Innen wie der nach Außen hätten so etwas wie die Struktur einer Lehre aus den Verwüstungen des II. Weltkrieges. 

Beides ist leider auf allen Seiten ins Hintertreffen geraten. Es wäre sinnvoll und hilfreich, sich wieder den Lehren zuzuwenden und sich nicht von propagandistischen Slapsticks kaufen zu lassen. Das ist und wäre allzu primitiv. Ein innerer Missstand, dem hierzulande entgegengetreten werden muss, war die Entwicklung der Presse zu einer Claque bestimmter politischer Positionen. Hinzugekommen ist nun, dass wir es mit einer Historikergilde zu tun bekommen haben, die sich am ersten Kapitel der Umschreibung der Geschichte übt. Auch dem gebührt scharfe Kritik. Und indem dieses geschieht, wird auch Kritik an analogen politischen Strukturen in anderen Ländern geübt. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen, oder?