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Notiz und Deutung

Das Unbewusste spielt uns viele Streiche. Seit den Deutungen und Experimenten Sigmund Freuds wissen wir, wie sehr die unterschiedlichen mentalen Instanzen des Seins miteinander korrespondieren, wie sie in Konflikte geraten oder kollaborieren. Für das einfältige Ego, das inmitten dieses Ensembles steht, ist das nicht immer so einfach zu erkennen. Und selbst einem aufmerksamen Beobachter würde manches entgehen, machte er sich nicht Notizen. Die Zunft der Psychoanalytiker ist daher seit Beginn mit dem Utensil der Aufzeichnung ausgestattet, um Passagen des Bewusstwerdens zu dokumentieren oder sich Notizen zu Ideen der Deutung zu machen. Da unser Dasein immer in Korrespondenz zwischen bewusstem Sein und unbewusstem Befinden steht, ist es ratsam, diese Methode der professionellen Psychoanalyse zumindest in den Situationen zu übernehmen, die von vorneherein als bedeutsam prognostiziert werden.

Bei solchen Gelegenheiten führe ich eines jener kleinen, unter Literaten geschätzten Notizbücher mit mir, in die ich Zitate, Fakten und Ideen unter Datum und Anlass niederschreibe. Und es lohnt sich jedes Mal. Die Rendite dieser Aktivität kommt nämlich dann, wenn ich die Notiz später einmal nachlese. Dann ist die Emotion der konkreten Situation längst erloschen und es stehen dort Dinge, die entweder völlig trivial oder fundamental wichtig sind. So, als handele es sich um etwas grundlegend Fremdartiges, erscheinen Begebenheiten, an denen ich selber teilgenommen habe. Der Gewinn ist die Fähigkeit, mit kaltem Auge auf das zu schauen, was im Augenblick seiner ursprünglichen Faktizität stinkt oder duftet, vor Feuer sprüht oder nass und kalt wirkt. Das Unmittelbare bleibt erhalten, aber als Zustand des zu Analysierenden.

Die Idee, die sich hinter der Psychoanalyse verbirgt, ist die, dass Menschen Produkte komplexer Wirkungsfaktoren sind. Zu ihnen gehört neben der eigenen Genetik die kulturelle Disposition der Generation, die tradierten Werte der Gesellschaft, die sozialspezifischen Haltungen der Klasse sowie individuelle Grundschemata wie Angst oder Aggressivität. Diese Idee, die anfangs von den Vertretern der theistischen Welterklärung vehement abgelehnt wurden, kommt mit der Diversifizierung der Wissenschaften in eine Spirale, die es zunehmend komplizierter macht, das menschliche Wesen in seiner Beschaffenheit wie Handlung zu deuten.

Die Digitalisierung hilft, diese Komplexität aufgrund der Volumina an Deutungsmustern, die existieren, in ihrer Quantität zu handeln. Sie hilft aber nicht, das Handwerk der Deutung zu erlernen. Wer Menschen nicht sprechen lässt und selbst nicht mit der Tugend des Zuhörens ausgestattet ist, wer sich nicht aufschreibt, was er hört, wer nicht immer wieder, mit zeitlichen Abständen, das Notierte nachliest und sich darüber Gedanken macht, der findet keinen Zugang in die Deutung menschlicher Handlungsmuster wie handlungsauslösender Impulse. Und der entdeckt auch nicht die Dilemmata des menschlichen Konstruktes an sich: die Widersprüche zwischen Schein und Sein, zwischen Begehren und Gesetz, zwischen Angst und Aggression und zwischen Glück und Leid.

Nicht, dass die Ansätze auf diesem unergründlichen Weg nicht immer wieder auch in die Irre gingen oder zu nichts führten. Das gehört zur menschlichen Existenz wie die Physis, die immer wieder an den biologischen Grenzen scheitert, von Generation zu Generation. Aber die Notiz wie die Reflektion sind so etwas wie das zivilisatorische Besteck, das dabei hilft, die temporär bewilligte Einsicht in das Existenzielle sinnvoll zu nutzen. Das können Maschinen nicht, die sind kalt und langweilig. Aber ein gutes Handwerk kann dem labilen menschlichen Erkenntnisapparat wertvolle Dienste leisten.

München: Ein Beitrag zur kriegerischen Mobilmachung

Das Phänomen ist bekannt und weit verbreitet. Sigmund Freud gab ihm den Namen Projektion. Dabei handelt es sich um ein Muster, das wie folgt funktioniert: eine Person hat einen bestimmten Plan,einen Wunsch oder eine bestimmte Ansicht, bezichtigt aber eine andere Person genau dieses vorzuhaben, zu hegen oder zu vertreten, weil sie sich selbst nicht traut, es zuzugeben. In der politischen Diplomatie unserer Tage handelt es sich längst nicht mehr um Hemmungen innerhalb einer vorhandenen Psychostruktur, sondern um ganz bewusst eingesetztes Besteck, um seine eigenen Absichten zu verbergen und in der öffentlichen Kommunikation Verwirrung zu stiften. Zum Teil, wenn es ganz perfide werden soll, wird dieses Spiel dann noch mit vertauschten Rollen gespielt.

Die jüngste Münchner Sicherheitskonferenz hätte unter diesem Aspekt sicherlich auch eine wunderbare Folie für Untersuchungen der psychoanalytischen Gesellschaften abgegeben. Sie hätten sich mit der Frage beschäftigen können, wie viele Projektionen und Fehlhandlungen aus dem Portfolio Freudscher Diagnostik mittlerweile Eingang gefunden haben in die internationale Politik. Und es ist an der Zeit, dass sich viele Berufsgruppen in den immer pathologischer werdenden Diskurs um die politische Zukunft einmischen, es kann nur eine Bereicherung sein!

Der Vertreter Polens übrigens begann mit der Projektion. Er sprach von einem Generalangriff Russlands auf die freien osteuropäischen Gesellschaften. Wen er damit außer Polen meinte, ob die Ukraine oder Ungarn, er ließ es offen. Nur die Drohung gegen Russland blieb, notfalls von polnischem Territorium aus Russland anzugreifen. In dieses Horn stieß auch NATO-Sprecher Stoltenberg, der nach dem gleichen pathologischen Grundmuster Russland davor warnte, Nuklearwaffen in konventionellen Konflikten einzusetzen, denn die NATO sei in der Lage von den Anrainerstaaten Russlands aus das Gleiche zu tun. Da war die Katze dann wohl aus dem Sack und Freud hätte wahrscheinlich an seiner Zigarre gesaugt und geschmunzelt. Wenn es nicht darum ginge, dass momentan irrsinnige Kriegstreiber dabei sind, Europa auf Kurs zu bringen, könnte tatsächlich das Amüsement dominieren, aber dem ist nicht so.

Denn in der Syrien-Frage kam nun der immer unberechenbarer werdende türkische Großmachtphilosoph Erdogan auf die Idee, zusammen mit saudischen Bodentruppen direkt in Syrien einzumarschieren. Dass auf dieser Konferenz zu München niemand von unseren eigenen lupenreinen Demokraten kräftig auf den Tisch gehauen hat, zeigt, dass schon der Kuckuck droht. Die immer wieder in die Diskussion geworfene moralische Verpflichtung, den gegenwärtigen Präsidenten Assad zu stürzen, weil er so unverantwortlich mit der syrischen Bevölkerung umgehe, gewinnt ungeheure Glaubwürdigkeit mit diesen beiden sunnitischen Scharfmachern. Während Erdogan die kurdische Zivilbevölkerung im eigenen Land bombardieren lässt wurden 2015 in Saudi Arabien mehr Menschen hingerichtet als vom verteufelten IS.

Dass die russischen Vertreter, allen voran Medwedew, davon sprachen, sich in einem neuen kalten Krieg zu fühlen, wurde in den hiesigen Medien wie eine befremdliche, nicht nachvollziehbare Gefühlsregung kolportiert. Die Art und Weise, wie die Kommunikation der Aussage gestaltet wurde, ist wiederum eine Angelegenheit für den Bereich der Diagnostik, mit dem Ergebnis, dass von kritischer Berichterstattung keine Regung mehr zu spüren ist. Denn wenn man der russischen Delegation etwas vorwerfen könnte, dann ist es die Verharmlosung. Die beschriebenen Konflikte wie die destruktiven Potenziale haben alles, und noch viel mehr, um von einem bereits begonnen heißen Krieg zu sprechen. Diejenigen, die die Münchner Konferenz durchführen, haben allerdings gezeigt, dass sie und ihr Handeln als eine der wesentlichen Kriegsursachen selbst gesehen werden muss. Die Münchner Konferenz hat zum Frieden nichts beigetragen. Zur kriegerischen Mobilmachung eine ganze Menge.

Weltschmerz, Nikotin und Psychoanalyse

Robert Seethaler. Der Trafikant

Vier Romane, drei Drehbücher, eine Anthologie und verschiedene Rollen als Schauspieler, Wohnsitze in Wien und Berlin. Der 1966 in Wien geborene Robert Seethaler bringt vieles mit, was unter dem neuzeitlichen Terminus eines Multitalents figurieren könnte. Letzterer steht allerdings nicht nur für die Fähigkeit, sich in verschiedenen Genres beweisen zu können, sondern auch für eine verlorene Gründlichkeit und Tiefe, die die Flexibilität einfordert. Das trifft allerdings nicht auf Robert Seethaler zu, den das deutsche Publikum auch als Gerichtspathologen in der Krimiserie Ein starkes Team bereits als Edelkomparse zur Kenntnis genommen hat. Sein neuer Roman Der Trafikant, seinerseits im Schweizer Edelverlag Kein & Aber veröffentlicht, hat ihm wahrscheinlich zum endgültigen Durchbruch als ernst zu nehmendem Schriftsteller verholfen.

Es kommt alles sehr leicht daher, in dem Roman, dessen Handlung im Jahre 1937 spielt und dessen Protagonist ein Junge vom Land ist, der aus Armut der Mutter vom Salzkammergut in die Trafik, d.h. das Tabak- und Zeitschriftengeschäft eines Bekannten nach Wien geschickt wird, um dort zu leben und zu lernen. Damit ist auch bereits das Motto des Romans genannt. Es geht um den Prozess der Großstadtsozialisation eines liebenswürdigen Landeis, das neben den Justierungsprozessen ins Erwachsenenleben Zeuge und Mitleidender wird bei der Faschisierung der österreichischen Gesellschaft, bei ihrem Abgleiten aus einer tradierten, vielleicht auch durch Nonchalance getriebenen Toleranz in eine Form der Verkommenheit und Barbarisierung, die aus dem heutigen öffentlichen Bewusstsein der rot-weiß-roten Rasse längst eliminiert wurde.

Seethalers narrative Konzeption ist bemerkenswert: Ein Strang führt vom Land in den Wiener Moloch mit seiner Zeitverwirrung, einer skizziert die Existenz des eigentlichen Trafikanten als den längst kleinbürgerlich etablierten Immigranten vom Balkan und einer den zum Bildungsbürgertum gehörenden Professor Sigmund Freud, der Kunde im Tabakladen ist und zwischen dem und dem Lehrling sich eine Beziehung entwickelt, die als Metapher gelten kann für die Tragik einer untergehenden Epoche.

Die Beziehung der beiden steht für die Dialogfähigkeit von Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die soziale Permissivität des mit positiver Konnotation genannten Ancién Regime des Wiens der zwanziger Jahre tanzte in den Tagen der Schuschnigg-Regierung bereits den Makabré. Die Dialoge zwischen dem Lehrling Franz Huchel und Professor Sigmund Freud sind große Literatur. Da fragt der einfache Landmensch den Intellektuellen nach einer Welterklärung, die dieser nicht geben kann und will. Da wird versucht, das große Geheimnis der menschlichen Beziehungen zu lüften, indem der Gelehrte mit kubanischen Zigarren, entwendet aus dem Laden, bestochen werden soll. Letzterem gelingt es aber, mit der Magie des eigenen Zuhörens den Erkenntnisprozess des ersteren einzuleiten und zu fördern und somit die Theorie seiner therapeutischen Schule nicht zu erklären, sondern fühlbar zu machen.

Der Roman ist eine Referenz an die Qualität menschlicher Bindungen, eine Hommage an die Loyalität aus einem humanistischen Urgefühl. Dokumentiert wird dieses nicht nur durch die Dialoge zwischen Franz und Freud, sondern auch seine wunderbare Korrespondenz mit der Mutter auf dem Land sowie die wortlose Übereinkunft mit dem Trafikanten, der mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland genauso untergeht wie Franz, der sein Erbe rasend schnell einzulösen bereit ist, will er keinen Sinn mehr sieht in einem Leben ohne Moral. Freud, der Greis, quält sich noch ins englische Exil. Was bleibt, ist ein Wien, das nur noch in der Erinnerung existiert. Das Unwiederbringliche findet in diesem Roman eine prächtige Gestalt.