Wie es der Zufall will: Gerade noch fuhr ich an dem Institut vorbei, an dem Piet C. Kuiper erst gelehrt hatte und später selbst Hilfe suchte. Kuiper war ein renommierter deutsch-niederländischer Psychiater (1919 – 2002) und wurde selbst von einer schweren Depression heimgesucht, deren Wirkungen er in dem Buch „Seelenfinsternis. Die Depression eines Psychiaters“ schonungslos beschrieben hatte. Der Titel weckte bei mir eine Assoziation zu einem aktuellen Geschehen, das wieder einmal dokumentiert, wie weit unser gesellschaftliches Ensemble sich einem anderen Titel nähert: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, von Sigmund Freud. Und, gemäß der Erkenntnisse des Letzteren, geschieht in unserem Unbewussten nichts von ungefähr. Lassen Sie mich meine heutigen Gefühle wie folgt, aber ganz unwissenschaftlich, beschreiben: bei der Betrachtung einer weiteren profanen Psychopathologie ereilte mich eine Form der Seelenfinsternis.
Zur Sache. Es geht um Attacken auf Politiker und deren Helfer im Vorfeld von Wahlen. Über Delikte wie Körperverletzung müssen wir nicht diskutieren. Es handelt sich dabei um eine zu Recht strafbare Handlung, die mit den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit juristisch geahndet werden muss. Was daraus momentan, auch aus den Lagern der Betroffenen Parteien, gemacht wird, grenzt, wenn es sich nicht um besagte Delikte der Körperverletzung handelt, an arglistige Überhöhung. Verbale Angriffe beim Aufhängen von Wahlplakaten als Attacken auf die Demokratie zu bezeichnen, hat psychopathologische Züge. Mir selbst kamen so genannte, mit dem Smartphone aufgenommene Dokumente zur Kenntnis, in denen Menschen zwar unflätig pöbelten, aber das war es dann auch. Das ist nicht nett, aber wer das nicht aushält, sollte sich mehr Gedanken über sich selbst machen. Wer für sich Artenschutz reklamiert, unabhängig von dem, was er in einer polarisierten Gesellschaft an politischer Programmatik vertritt, sollte sich nicht in dieses Metier begeben. In einer Zeit, in der Meinungsabweichler mit geballten Kampagnen bis an den Rand der bürgerlichen Existenz getrieben werden, sollte die Larmoyanz ausgerechnet in den Lagern, in denen die mentale Inquisition Hochkonjunktur hat, keinen Platz haben. Hat sie es doch, sind wir bei einer typischen Form von Psychopathologie.
Eine besondere Note bekommen die Trittbrettfahrer tatsächlicher Übergriffe, wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass die Lautesten unter ihnen eine große Geschicklichkeit in Formen der Kriegseskalation erreicht haben und Kriegsverbrechen, getätigt von Verbündeten, als lässliche Sünden von ihnen verharmlost werden. Wer industriell unterstütztes Morden in seiner politischen Agenda als alternativlos darstellt, wer Menschen, die sich für Frieden einsetzen, auf das Unflätigste beschimpft und andererseits in Tränen ausbricht, wenn von der anderen Straßenseite eine Schimpfkanonade kommt oder der Vogel gezeigt wird, sollte sich, unter normalen Umständen, einem Arzt des Vertrauens zuwenden und nicht meinen, dieses Land politisch gestalten zu wollen.
Dass die Umstände nicht normal sind, wird mit solchen, täglich in immer neuen Variationen auftretenden Ereignissen, deutlich. Und immer mehr Menschen befällt in einer solchen Zeit der Zustand einer Seelenfinsternis. Sie speist sich aus der Frage, wie es kommen kann, dass alles, was man als gesellschaftliches Agieren wahrnimmt, befüllt ist von Psychopathen, die nichts, aber auch gar nichts mit dem als richtig empfundenen Leben zu tun haben.

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