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Die zweite Welle der Vernichtung

In der Seemannssprache ist es die neunte Welle, die bei Unwetter als die gefährlichste bezeichnet wird. Hier und heute, im Zeichen einer Pandemie, fürchten sich viele vor der zweiten Welle. Zu Recht, denn die erste war neben der zu beklagenden Toten vor allem vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Auswirkungen noch weitaus schlimmer. Absehbar, wie viele Menschen ihre Arbeit verlieren und wie viele Unternehmen werden Insolvenz anmelden müssen, werden die Auswirkungen erst per a peu. Wer rechnen kann, sieht bereits, wie verheerend es werden wird. Aber wenn schon die Metapher mit den Wellen angeführt wird, dann sei sie hier auch weiter verwendet. Es geht allerdings um die Wellen der Vernichtung dessen, was einmal die Arbeiterklasse genannt wurde.

In der ersten Welle wurde sie im Zeitalter des Wirtschaftsliberalismus, dem politischen Programm der globalen Kapitalverwertung inklusive des Finanzhandels und der systematischen Steuerverweigerung, durch den Angriff auf in Tarifen ausgehandelte und in organisierten Arbeitskämpfen erwirkte Bezahlung bereits schwer getroffen. Mit der Aushebelung von Tarifen, der Ermöglichung systematischen Lohndumpings durch Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen wurden nicht nur die Besitzer qualifizierter Arbeitsplätze getroffen, sondern auch noch eine neue Klasse gebildet, die mit einem Namen versehen wurde, der den Ekel derer, die dafür verantwortlich zeichnen, bereits ausdrückt, nämlich das Prekariat. Man scheute sich, die bittere Wahrheit mit einem Namen zu benennen, der die Brutalität der tatsächlichen Existenz für jedermann verständlich bezeichnet hätte. In der Vergangenheit war der Zynismus der Nutznießer noch nicht so sublimiert, da wurde noch vom Lumpenproletariat oder Strandgut gesprochen. 

Die allgemeine Absenkung des Lohnniveaus hat nicht nur eine zweite Klasse abhängig Beschäftigter hervorgebracht, sondern diese selbst im Sinne globalisierter Verfahrensweisen auch noch verändert. In großem Ausmaß setzt sich die neue Klasse der total Entrechteten aus Menschen zusammen, die zugewandert sind und in Ländern rekrutiert wurden, in denen die existenziellen Grundlagen nicht gesichert sind. Sie sind die zweiten Verlierer der ersten Welle der Vernichtung halbwegs akzeptabler Löhne und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme wir der Renten- und Krankenversicherung, die mit der ersten Welle einhergingen. Die neue Klasse hat nichts von allem: in der Regel nicht einmal den Mindestlohn, weder Renten- noch Krankenversicherung. Eine neue Klasse von Sklaven ist etabliert. Der libertäre Staat steht auf Seiten der Steuerflüchtlinge.

Die zweite Welle nun bezieht sich auf die Ansiedlung derer, die gesellschaftlich längst ausgegrenzt sind. Es geht um ihre Vertreibung aus den Städten. Das, was analog zu dem Begriff des Prekariats für dieses Unterfangen geschaffen wurde, ist die Gentrifizierung. Auch hier ist der Name eine Verschleierung für etwas, das als die Vertreibung der Rechtlosen aus dem städtischen Raum stehen sollte. Es geht darum, die urbanen Zentren für die Gewinner des Krieges um Sicherheit und Wohlstand zu reklamieren und die Verlierer in außerhalb des Sichtfeldes liegende kasernierte Ghettos zu verfrachten, wo sie ihrem Elend überlassen bleiben. Zumeist sind die Nutznießer dieser Vertreibung vehement gegen Massentierhaltung und für Nachhaltigkeit, ohne den Zusammenhang zu den von ihnen Vertriebenen zu sehen. Dieser Zustand der sozialen wie intellektuellen Verwahrlosung kann als eine Art chronischer Nebenwirkung der zweiten Welle bezeichnet werden. 

Erste wie zweite Welle des Wirtschaftsliberalismus hatten das Establishment eines neuen, brutalen Klassenstaates zur Folge. Sein Gesicht ist ein anderes als das, welches in den Geschichtsbüchern steht und als Manchester-Kapitalismus beschrieben wurde. Die Organisierung der historischen Arbeiterbewegung hatte zur Folge, dass ein relativer Wohlstand etabliert wurde, der auf Bezahlung, verfügbarem Wohnraum und sozialer Sicherung hinsichtlich Alter und Gesundheit wie auf dem Zugang zu Bildung beruhten. In der ersten Welle wurden die existenziellen Grundlagen zerstört, die zweite Welle soll das übrig gebliebene Strandgut aus den Städten treiben. Die traurige Gestalt von Sklaven passt nicht zum schicken Interieur des biodynamisch nachhaltigen Kiezes, in dem sich das Jungvolk des neuen Reichtums zerstreuen möchte. Und, um Missverständnissen vorzubeugen: die Vollstrecker dieser Politik waren nicht irgendwelche Finanzkapitalisten, die von der Börse im fernen New York aus die Welt administrieren, sondern Politiker und Bürokraten vor Ort, die die Schleusen geöffnet haben. 

Das massive Rumpeln in der westlichen Welt

Man kann getrost davon ausgehen, dass häufig verwendete Begriffe, mit denen eine Forderung belegt wird, einen tatsächlichen Bedarf beschreiben. Wir alle kennen das. Organisationen, in denen ständig von Strategie geredet wird, haben selten eine, zumindest keine erkennbare. Das ganze Gerede von Nachhaltigkeit zeichnet ein ähnliches Bild. Je mehr über die Notwendigkeit weit greifenden Denkens und einer intelligenten wie vernünftigen Nutzung von Ressourcen und ein ebensolcher Umgang mit der Natur die Rede ist, desto häufiger ist zu beobachten, wie weit die Entfernung zu der Forderung noch ist. Manchmal auch sind es nur Slogans, die ein Image erzeugen sollen, ohne dass tatsächlich Substanz dahinter steckt. Man denke an die Kaffeekette, die vielen Alternativen so attraktiv erschien, bis bekannt wurde, dass sie mit ihren Plastikbechern nicht nur die ganze Küste vor New York City vermüllt hatte.

Strategie ist die Bedingung, ohne die vieles keinen Sinn ergibt. Das gilt für Organisationen im Kleinen wie für den Staat im Großen. Dass wir von einer öffentlichen Strategie-Diskussion nichts mitbekommen, ist kein Wunder. Es gehört zu den strukturellen Problemen der Politik, dass sie seit langem nicht willens und in der Lage ist, den Bürgerinnen und Bürgern zu verdeutlichen, geschweige denn mit ihnen in einen Diskurs zu gehen, wohin die Reise gehen soll. Hätte sie das getan, zum Beispiel beim Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsstreitkraft, dann wäre vieles nicht ohne massive Reibung über die Bühne gegangen. Deshalb sei eine dritte Perspektive angefügt, nämlich das Totschweigen der Notwendigkeit unter Bannung des Begriffs. Strategie und Politik, das findet in der Öffentlichkeit als Anregung gar nicht erst statt.

Letzteres wäre wahrscheinlich das Explosivste, was passieren könnte. Die einzelnen Schritte der Veränderung, die seit der Jahrtausendwende in diesem Land vollzogen wurden, noch einmal vergegenwärtigt, ergeben nämlich ein Szenario, das mit einer Strategie gespickt ist, die „denen da draußen“ gar nicht zu vermitteln ist. Angefangen mit der Agenda 2010, der Entwicklung einer europäischen Administration, in der zunehmend die Interessen der großen Wirtschaftskonzerne in das immer weiter verdichtete Regelwerk einflossen, die Osterweiterung der EU mit der teils artifiziellen Schaffung neuer Märkte, bis zum erwähnten Umbau der Streitkräfte, alles deutet auf eine Strategie hin. Sie ist vorhanden, wird aber nicht erörtert.

Das schlichte Ziel dieser Strategie ist das Label des Exportweltmeisters mit der Ausrichtung, höchst mögliche Gewinne für die großen, global operierenden Wirtschaftskonzerne einzufahren. Dazu bedarf es des Zugangs zu Märkten, die nach dem Reglement funktionieren, das von eben diesen ohne weiteres bedient werden kann. Dazu bedarf es niedriger Lohnkosten, für die durch die Hartz-Reformen und die massive Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitsmigranten aus Osteuropa gesorgt wurde. Um den Ressourcenzugriff zu sichern, bewegt man sich im Heer der Gleichgesinnten innerhalb der NATO, die ebenfalls mit den Signum der Verteidigung seit Jahrzehnten nichts mehr zu tun hat.

Bliebe die Frage offen, warum aus dem eigenen Land bis dato kein Aufschrei kommt, um dieser, für das Gros der Bevölkerung desaströsen Strategie ein Ende zu bereiten. Denn weder die allgemeine, unaufhaltsame Verarmung großer Teile der Bevölkerung, selbstverständlich bei gleichzeitigem astronomischem Anwuchs des Reichtums Weniger, noch der rasante Anstieg der Kriegsgefahr liegen im Interesse der Mehrheit. Die Antworten sind vielfältig. Ob noch genügend Zeit bleibt, sie in allen Aspekten zu betrachten, ist anzuzweifeln. Die Unterwerfung des politischen Systems unter die Interessen der global agierenden Wirtschaft hat zu einer Situation geführt, die getrost als revolutionär bezeichnet werden kann. Da helfen auch nicht die Erste-Hilfe-Aktionen, für die sich die Sozialdemokratie in der Koalition einsetzt. Das wird keine Revolution nach den Mustern der alten Klischees sein. Aber das massive Rumpeln in der westlichen Welt ist der Schlussdonner dieser Epoche. Die Stürme, die uns erwarten, werden vieles von dem übersteigen, was wir bis dato erleben durften.