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„Die Menschen sind keine Esel!“

Heinrich Heine schuf das Bild, dass die Menschen keine Esel seien. Sie würden gleich verstehen, dass Rindfleisch und Zuckererbsen bekömmlicher seien als altes Brot. Ein schönes Bild, aber wohl auch ein allzu optimistisches Kalkül. Aus heutiger Sicht wäre es nicht mehr anwendbar, wahrscheinlich finge es mit einer Diskussion über das Rindfleisch an. Aber was wäre die richtige Bemerkung, um ein optimistisches Bild in schwierigen Zeiten zu malen? Vielleicht ginge es in die Richtung, das die Menschen keine trivialen Maschinen sind und exklusiv Befehlen gehorchen, die einer interessengeleiteten Rationalität folgen. Und, wenn sie schon keine Esel sind, dann sind sie vielleicht neuzeitliche Seismographen. Die Ratio liegt oft geschändet auf den Boulevards, aber die Empfindung führt sie nicht selten auf den richtigen Weg. Viele Menschen merken, wenn etwas nicht stimmt. Auch wenn sie es nicht gleich erklären können.

Was liegt dieser seismographischen Eigenschaft zugrunde? Auf jeden Fall die eigene praktische Erfahrung, das, was jeder einzelne Mensch in seinem bisherigen Leben durchlaufen hat. Das fängt mit den Ur-Erlebnissen an und endet mit den so genannten eigenen Weisheiten. „Wirklich große Leute“, so pflegte meine Großmutter, die alle den roten Zaren nannten, zu sagen, „die wirklich großen Leute, die erkennst du daran, wie sie die kleinen behandeln“. Einfach, aber wahr. Und das Ergebnis einer lebenslangen Beobachtung. Und wenn es nicht rational verarbeitet wird, dann existiert es dennoch bei vielen im Gefühl. Die kollektive Erfahrung existiert, auch wenn sie nirgendwo gemessen wird. Das führt nicht selten zum Entsetzen derer, die doch wie triviale Maschinen funktionieren, wie man nach der Wahl Donald Trumps hierzulande beobachten konnte.

Und so hat jede Epoche ihre eigenen, tief in der kollektiven Psyche liegenden Momente, die zumeist erst hinterher, im Sinne einer historiographischen Rekonstruktion, bewusst wahrgenommen und sichtbar werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die heutige Aufarbeitung des Ausbruch des I. Weltkrieges. Da reden Historiker ganz bewusst von Schlafwandlern, die in den Krieg hineingeschlittert sind, und Unrecht haben sie nicht. Selbstverständlich existierten handfeste Interessen, aber was war es, das kollektiv und psychisch, und auf allen Seiten dort in Gang gesetzt wurde? Und es setzte sich fort in einer deutschen Revolution, die zu Beginn, während der 15 Weimarer Jahre und final 1933 vor allem an der Unfähigkeit scheiterte, sich psychisch von der Autorität loszusagen und ein eigenes, selbstbestimmtes Leben ohne das Über-Ich und die eigene psychische Krise zu überleben. 

Es ist anzuraten, sich die Äußerungen der kollektiven Psyche oder, vielleicht noch zeitgemäßer, die Funktionsweise, das Programm und die Apparatur der kollektiven Befindlichkeit angesichts der Multifunktionskrise, in die wir hineinschlittern, genau zu beobachten. Denn dort lauern die Antworten auf die Reaktionen auf die konzentrierte Phase der Instabilität. Und, daran hat sich nichts geändert, es ist zu verorten, inwieweit das kollektive Bewusstsein umgeht mit Ursache und Wirkung. letztendlich wird es wieder die Frage sein, ob dieses große Unbewusste in der Lage sein wird, sich von den institutionellen Schranken der sittlichen Überwachung zu lösen und stattdessen etwas Neues zu setzen. Frei von desaströser Vergangenheit, deren Logik auf einer mentalen Käfighaltung beruht. Das ist viel verlangt. Achten wir auf das Seismographische!

Das Pflaster von Paris

In Paris ist das Volk auf der Straße. Nichts Außergewöhnliches für dieses Pflaster. Seit dem untergehenden 18. Jahrhundert konnte die französische Metropole für sich reklamieren, nicht ein, sondern der Seismograph für die politischen Bewegungen Europas zu sein. Hier schrieen die verarmten städtischen Proletarier nach Brot und stürmten danach die Bastille, hier köpften sie Monarchen, Revolutionäre und Konterrevolutionäre, hier krönten sie Bürgerkönige und hier jagten sie Kollaborateure durch die Straßen und hier initiierten sie die letzte große Kulturrevolution gegen das etablierte Bürgertum. Paris war immer ein Pflaster, auf das die Vorboten von Revolution und Konterrevolution zuerst aufschlugen.

Die Hunderttausende, die am 27. Mai 2013 hier und heute auf der Straße waren, werden im ersten Reflex wohl eher mit der zeitgenössischen Vorstellung der Konterrevolution konnotiert. Auch wenn vieles dafür spricht, dass man sich nicht so sicher sein sollte. Isoliert betrachtet und rein faktisch handelt es sich um Proteste gegen die Legalisierung und gesetzliche Gleichstellung von Homo-Ehen mit denen Heterosexueller. Insofern läge auch die Bemerkung nahe, dass sich die Moral des Ancien Regimes erhöbe, um dagegen zu protestieren.

Was allerdings auffällt und von den unterschiedlichen Betrachtern berichtet wird, ist die politische und soziale Heterogenität derer, die da mit einer derartigen Vehemenz protestieren. Die ersten Deutungen schreiben es einem allgemeinen Protest gegen die Regierung des Sozialisten François Hollande, der mit einer rigorosen Symbolpolitik das Land tief zu spalten bereit sei. Angefangen von einer Reichenbesteuerung, die bis zu 75 Prozent geht und nichts beiträgt zur Sanierung der Staatsfinanzen, fortgesetzt über Arbeitsmarktgesetze, die keine Bürokratie der Welt wird umsetzen und kontrollieren können bis hin zu einer neuen Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, die die Politische Korrektheit formalisiert und eben jener absoluten Gleichstellung von Homosexuellen bei der Eheschließung.

Letzteres, so ist zu vermuten, hat ein Fass zum Überlaufen gebracht, das in vielen Ländern Europas ebenso gut gefüllt ist: Das der politischen und gesetzlichen Festschreibung eines neuen Moralismus, der die Grundwerte von Freiheit und Gleichheit in der Lage ist außer Kraft zu setzen. Schon seit einigen Jahren fällt auf, dass die wachsende Liberalisierung der Politik der Gleichstellung, die sich dann zur Enttäuschung vieler sehr schnell in eine reglementierende und selbst diskriminierende Kraft verwandelt, neue politische Bewegungen hervorbringt, die offensichtlich genau das propagieren, was man eben gar nicht wollte: Hass und Intoleranz. Dass letzteres an der Verwandlung des Toleranzanspruchs in einen moralischen Rigorismus liegt, kann nicht mehr bezweifelt werden.

Gegen das, was sich heute auf den Straßen von Paris abspielt, sind die so genannten rechten politischen Strömungen in Europa eine Petitesse. Denn die Pariser Massenbewegung besteht eben nicht aus den klassisch verdächtigen Milieus der Ungebildeten, wirtschaftlich Erfolglosen und politisch Perspektivlosen. Hier hat sich zum Teil eine sehr erfolgreiche, aber nicht elitäre, eine sehr liberale, und nicht intolerante Bürgerschaft versammelt, um gegen das Ausmaß an Minoritätenrechten und Egalitarismus zu protestieren. Hier geht es auch um die nicht mehr hinzunehmende symbolische Bestrafung von Erfolg und die Bestrebungen, im orwellschen Sinne manche gleicher als gleich machen zu wollen. Hollande und seine Regierung zeichnen sich bis jetzt dadurch aus, die Empathie für das Gerechtigkeitsgefühl der Gesellschaft nicht zu besitzen. In den USA folgte dem Übermaß der Political Correctness aus der Clinton Ära das Kapitel Bush. In Europa ist noch alles offen, aber in Paris kann man schon mal spekulieren, wohin die Entwicklung zu treiben in der Lage ist.