Ich habe mich immer gefragt, wie man aus dem Titel „Verbrechen und Strafe“ so etwas wie „Schuld und Sühne“ machen kann. Die Antwort ist einfach: man muss in Deutschland leben und den dortigen Buchmarkt im Auge haben. Mit dieser Konnotation liegt man dann genau richtig. Bemerkenswert ist, dass es sich bei der Jahrzehnte langen Vermarktung von Dostojewskis Roman zwar um ein markantes, aber nicht das einzige Beispiel handelt. In Deutschland, das wissen vor allem auch genug Beobachter von außen, da mag man es düster und schwülstig. Und wenn da noch so etwas wie eine schwere Schuld dazu kommt, dann ist das Menu perfekt. Gerade gestern noch berichtete ein Freund, der mit einem chinesischen Geschäftsmann ins Gespräch gekommen war, dass dieser interessiert gefragt hätte, wieso die Deutschen eigentlich immer auf der Schuldfrage herumritten? Es wäre doch viel sinnvoller, sich auf die Zukunft auszurichten und sich zu überlegen, wie man vieles verbessern könnte.
Und dass da niemand glaube, der Prozess der Schuldfokussierung resultiere aus den Verbrechen, die mit der Periode des Nationalsozialismus zusammenhingen! Die Frage nach der Schuld existiert, seitdem es kulturelle Konglomerate deutscher Zunge gab. Also weit vor der Existenz eines deutschen Staates. Spekulieren möchte ich nicht. Aber vielleicht hängt es doch mit dem Nibelungenmythos zusammen. Wer den hinterhältigen Mord in seinem Nationalepos beheimatet hat, der ist von Anfang an wohl mächtig traumatisiert.
Und es zieht sich nicht nur durch die deutsche Geschichte, in der immer wieder die Übeltäter von allen Seiten beleuchtet werden und positive Helden eher als Rarität gehandelt werden. Und es stellt sich nicht die Frage, ob es solche positiven Beispiele nicht gegeben hätte. Die vielen Philosophen und Dichter, die Naturforscher und Weltentdecker, die Mediziner und Ingenieure – sie werden von einer Weltöffentlichkeit als German Genius gewürdigt. Daran kann es nicht liegen. Irgend etwas durchzieht den psychosozialen Komplex des Deutschseins, dass immer nur das hängen bleibt, was grausam und schrecklich ist. Verstehen wir uns nicht falsch! Auch das gehört zur Geschichte und muss dokumentiert wie reflektiert werden. Aber es dabei zu belassen, ist ein Anschlag auf die Zukunftsfähigkeit.
Bei einem Besuch der Hagia Sofia in Istanbul fragte jemand bei einer Führung durch einen türkischen Kunstkenner, wie viele Menschen denn beim Bau dieses wunderbaren Kulturmonuments ums Leben gekommen seien. Der Führer richtete sich umgehend an den Fragenden und wollte wissen, ob er aus Deutschland sei. Denn diese Fragen kämen nur von Deutschen. Besser kann man das Trauma nicht illustrieren als an dieser Episode. Es scheint so, als hätte die negative Seite des Lebens, der Schatten, immer eine größere Attraktivität in Deutschland als das Positive und das Licht.
Das ist bis heute so. Mittlerweile existieren zwar neue Übersetzungen von Dostojewskis Roman und sie tragen auch den korrekten, dem Russischen entsprechenden und schon immer in alle Weltsprachen übersetzten Titel „Verbrechen und Strafe“, aber an der deutschen Mentalität hat sich nichts geändert. Sie bleibt verhaftet in einem Schuldkomplex, der eine Moralität hervorbringt, die jeder kühlen, klugen sind aufgeklärten Betrachtung im Wege steht. Und es führt immer wieder in neuen Dilemmata. Aus der sich – das versteht sich von selbst – wunderbar erneut die Schuldfrage ableiten lässt. Schuld ist keine Strategie, Schuld ist kein Leitbild. Ob sich diese Erkenntnis einmal durchsetzen wird?
