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Die Rundung des Kopfes nutzen!

Von dem französischen Schriftsteller Francis Picabia stammt der wunderbare Satz, dass unser Kopf rund sei, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Bei Betrachtung unserer täglichen Routinen stellt sich sehr schnell heraus, dass es sich dabei nur um eine Möglichkeit, keinesfalls um eine Gewissheit handelt. Zu oft müssen wir feststellen, dass genau das nicht passiert: der Richtungswechsel. In Zeiten sich einander ablösender Krisen wird deutlich, dass das Festhalten an alten Gewohnheiten und Denkstrukturen so etwas wie einen vermuteten Rettungsanker darstellt. Indem sich viele Menschen auf das fokussieren, was sie bereits kennen, offenbaren sie das Dilemma ihrer eigenen Existenz: Sie wollen an dem festhalten, was vertraut ist, weil sie meinen, es löse das Versprechen der Sicherheit ein.

Aber genau das ist es, was nicht mehr zu finden ist. Die Sicherheiten, von denen wir glauben, dass sie auch jenseits des Heute bestünden, tragen das Verhängnis bereits in sich. Das Altvertraute verhindert die Offenheit, die nötig ist, dem Neuen positiv zu begegnen. In einer Gesellschaft, die sich trotz des hohen Entwicklungstempos in einer Selbstzufriedenheit badet, ist das Ausblenden notwendiger Veränderung sogar tödlich. Das Neue, das mit jedem Schritt in eine andere Richtung weist, kann nicht verarbeitet werden, wenn es von alten Narrativen zugedeckt wird.

Genau das ist das Problem. Das immer dankbarste Feld für den Nachweis des beschriebenen Dilemmas ist die Politik. Übrigens egal wo, ob im sonnigen Westen oder im dunklen Osten, wo es angeblich nur morgens einmal kurz leuchtet. Wenn sich die Zeiten ändern, wie es so unkritisch heißt, dann werden alte Rezepte hervorgeholt, um die Welt abermals, allerdings trügerisch zu erklären. Das Ergebnis kann nichts anderes sein als eine große Enttäuschung. Denn, das wissen wiederum alle, nichts wird bleiben, wie es war. Auch wenn es dem innigen Wunsch nach Sicherheit widerspricht. 

Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen wird, und um das vorauszusehen, bedarf es keiner großartigen prognostischen Fähigkeiten, ein Almanach des Gewesenen entworfen werden. Man kann es auch anders formulieren: Ist irgendwo eine politische Partei in Sicht, der zugetraut wird, eine Vision zu vermitteln, die in der Lage ist, Aufbruchstimmung zu erzeugen? Oder werden Ängste heraufbeschworen, um die Menschen der alten Ordnung gefügig zu machen? Das möge jede und jeder für sich selbst beantworten, und es stellt sich die Frage, ob die medialen Consultings bereits an einer neuen Illusion arbeiten, die die Politik dabei unterstützen wird. Man sollte nur eines nicht tun: Sich dem Trugschluss unterwerfen, dass eine Illusion gleichbedeutend mit einer Vision ist.

Die Analysen über die großen Entwicklungstendenzen liegen vor: Globalisierung, neue Herausforderungen aufgrund weltweiter Vernetzung, Produktionsweisen, Lieferketten, klimatische Veränderungen, Pandemien und Kriege. Viele der Stichpunkte umreißen sowohl das Problem als auch die Perspektive. Wer in diesem Konglomerat existenzieller Fragen mit den alten Milchmädchenrechnungen der Vergangenheit hausieren geht, appelliert lediglich an den Wunsch, alles möge wieder so werden, wie es einmal war. Dass das nicht der Fall sein wird, ist bereits deutlich. Also besteht auch kein Grund, den Revisionisten, Nostalgikern und Schamanen erneut auf den Leim zu gehen. Erlauben Sie sich den Spaß, angesichts dessen, was bevorsteht, die einzelnen Akteurinnen und Akteure den erwähnten Kategorien zuzuordnen.

Bleibt, den klugen Satz Francis Picabias im Gedächtnis zu behalten und selbst zu versuchen, die Rundung des Kopfes zu nutzen, um die eigene Richtung zu ändern.

Die Quacksalber der Globalisierung

Dass die Welt immer komplexer wird, gehört zu den Grundsätzen von Erkenntnis, die vorhanden sein sollte, wenn eine Diskussion über mögliche Gestaltungsmöglichkeiten mit Aussicht auf Erfolg geführt werden soll. Das Medium der Gestaltung dieser Welt ist und bleibt die Politik. Keine noch so avancierte Fachdisziplin und keine noch so elaborierte Philosophie werden in der Lage sein, die Millionen von losen Enden so zusammenzuführen oder auch zu separieren, um sinnhafte soziale Beziehungen daraus zu formen. Auch wenn es für so manchen Zeitgeist kaum noch zu ertragen ist, die Res Publica bleibt auch in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung das höchste Konstrukt, mit dem sich das soziale Wesen Mensch zu befassen hat.

Und genau so, wie sich die immer schneller werdende Kommunikation von den tatsächlichen Wegen des materiellen Vollzugs dieser Kommunikation hinweg bewegt, genau so viel Zeit liegt zwischen der Aktualität der politischen Erklärungsmuster und den tatsächlichen sozialen Bewegungen. Um es deutlich zu sagen: So schnell die Kommunikation auch sein mag, der Weg von Manila nach Rotterdam, der erforderlich ist, um den vielleicht an der Börse vereinbarten Handel zu vollziehen, beträgt auf dem Seeweg immer noch vier bis sechs Wochen. Und so schnell bestimmte politische Fakten geschaffen sind, bis die Fähigkeit in Form einer Theorie diese neuen Fakten zu erklären entwickelt ist, vergehen wahrscheinlich einige Jahre, ein Zeitraum, der angesichts des atemberaubenden Tempos technokratischer Faktizität nahezu unerträglich erscheint.

Es macht gar keinen Sinn nach Schuldigen zu suchen. Es gibt sie schlicht nicht. Die Kluft zwischen realer Lebenswelt und hinreichender theoretischer Erklärung gab es immer, und ob sie tatsächlich angesichts der binären Beschleunigung noch größer geworden ist, muss sich noch herausstellen. Was sich angesichts der Säugung des Menschen durch die digitalen Instrumente dramatisch verändert hat, ist die Fähigkeit des letzteren, mit unerklärten Phänomenen umzugehen. Angesichts dieser Perspektive war der Mensch des Mittelalters ein glücklicher, weil er sowohl Leidensfähigkeit und Geduld mit sich brachte. Geduld ist heute eine aussterbende Tugend und deshalb haben sich die Tore weit geöffnet für ein bestimmtes Metier, das sehr verwandt ist mit den Schamanen und Spökenkiekern, den Voodoo-Zauberern und den Drogenphilosophen der Vergangenheit.

Ihre Konjunktur entstammt der als groß empfundenen zeitlichen Lücke zwischen realen Fakten und Politikerklärung. Das hat zum einen objektive Gründe, zum anderen entspringt es der wachsenden Unlust der politischen Klasse, ihr eigenes Geschäft zu betreiben, indem sie darauf verzichten, die politisch komplexe Welt noch erklären zu wollen. In dieses Gap springen nun die Quacksalber der Neuzeit. Es handelt sich dabei nicht einmal mehr um spirituelle Sinnstifter oder narkotisierende Trostspender, sondern um Triebtäter im Namen einer Spezialwissenschaft. So ist es auch die Aura der Wissenschaftlichkeit, welche ihnen beim großen Publikum die notwendige Legitimation verschafft. Im Zeitalter des Szientismus haben die Wissenschaften längst den Status von Zivilreligionen erreicht, die entgegen ihren kritischen Wurzeln zu Dogmatismus und Besserwisserei neigen.

Im Moment sind es vor allem Vertreter aus der historischen Wissenschaften und, schlimmer noch, der Ökonomie, die im Brustton der Überzeugung die komplexe Welt der Politik erklären und keinen Widerspruch dulden. Ihre Inthronisierung als diejenigen, die die Welt zu erklären in der Lage sind, ist ein fataler Rückfall in die Vor-Aufklärung. Die Politik ist das einzige Medium, das in der Lage ist, die sozialen Konstrukte dieser Welt zu gestalten und zu erklären. Es wird Zeit, dass sie den Quacksalbern der Globalisierung das Handwerk legt.