Was bedeutet es, wenn das Elend, je weiter es von der betrachtenden Person entfernt ist, besonders berührt? Der darbende und entrechtete Mensch in der Ferne weckt tiefe Gefühle, während die Not vor der Haustür eisige Kälte erzeugt. Welcher Art sind die Handlungen, die aus einer solchen Absurdität erwachsen, oder, besser gefragt, welche Verhältnisse stecken dahinter?Was macht den Menschen so erratisch, dass er sich als sozial empfindet, wenn er die Vorgänge, die Not erzeugen, kaum beeinflussen kann? Und warum ist er imprägniert gegen Bedürftigkeit, wenn er sie förmlich riechen müsste? Das Phänomen, diese Beobachtung kommt verschärfend hinzu, ist nicht das Krankenbild vereinzelter Individuen, sondern ein Massenphänomen vor allem der deutschen Gesellschaft. Zumindest könnte man, quasi als mildernden Umstand gelten lassen, dass es überhaupt noch eine Regung gibt, die als soziales Gewissen klassifiziert werden könnte. Nur, und das ist wiederum ein belastender Umstand, nur weh tun darf es nicht.
Um eine steile These voranzuschicken: Das Verschwinden der Arbeiterklasse, zumindest als politisch handelndes Subjekt, hat dazu geführt, dass das, was als eine Opposition von unten bezeichnet werden könnte, nicht mehr vorhanden ist. Was blieb, ist eine aus der vor einem halben Jahrhundert stattgefundenen Jugendrevolte hervorgegangene Mittelschicht, die sich düster an ihre Anfänge erinnert, aber wirtschaftlich wie politisch nicht mehr agiert, sondern ihre posttraumatischen Schimären durch das Feuilleton jagt. und eine aus diesem sozialen Orkus hervorgegangener Brei politisch Unbewusster, die allen Ernstes glauben, sie könnten durch ihr Konsumverhalten die Welt ändern.
Was bleibt, sind die, die unter dem Tisch liegen geblieben sind. Als Prekariat verhöhnt, sind es die, die das Gefühl des Hungers, das der Obdachlosigkeit und das der Würdelosigkeit sehr gut kennen, was den oben Beschriebenen nur aus Büchern bekannt ist. Zur Beruhigung aller, die an dem konservierten Stillstand verzweifeln, kann die statistische Gewissheit übermittelt werden, dass die Anzahl derer, die als sozialer Untergrund am besten bezeichnet werden, rapide steigt. Wer das nicht glauben mag, sehe sich die französischen Zustände an. Das, was dort an Widerstand gegen den Krieg des smarten Macron gegen die arbeitende Bevölkerung entstanden ist, kam von eben jenem sozialen Untergrund. Und wir wissen, warum wir davon so wenig gehört haben in der Öffentlichkeit. Diejenigen, die diesen Echoraum gestalten, fürchten einen Aufstand, wie er von den Gelbwesten begonnen wurde, wie den Tod. Und, ehrlich gesagt, das sollten sie auch.
Denn außer dem sozialen Untergrund scheint es keine politisch relevante Kraft mehr zu geben, die eine erfolgreich Veränderung bewirken könnte. Der Rest ist beteiligt an dem gewissenlosen Ausplündern der restlichen Welt. Im Monat März, so sagt man, hat die Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr ihren Anteil an der weltweiten Verpestung verbraucht, wenn man so rechnen wollte. Alles, was danach kommt, geht auf Kosten anderer. Und die smarten Protestler gegen dieses Phänomen laufen mit Smartphones herum oder skaten mit E-Rollern durch die Städte, zu deren Funktion und Antrieb Kinder in anderen Regionen der Welt in Kobalt- und Litium-Minen getrieben werden und um die bereits dreckige Kriege geführt wurden. Geht es noch? Diese Kohorte wagt es, von Werten zu schwadronieren und sich über das Unrecht in der Welt zu beklagen? Nein, das geht nicht mehr. Aus der Sicht derer, auf deren Zukunft die ästhetisch anmutenden Konsumdiskussionen stattfinden, wird jedes Verbrechen, das begangen wird, ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Da wird nichts mehr getilgt werden können. Das Spiel ist irgendwann aus. Alles kommt zurück. Frag sich nur, wann. Die Zeit, sich mit Alibis zu exkulpieren, ist abgelaufen.
Jean Paul Sartre, der viel Geschmähte, sei, weil er Franzose war, doch noch einmal zitiert. In Bezug auf sein eigenes Land und dessen Kolonialismus hatte er immer wieder entlarvt, wie sich das System des Kolonialismus, der Entmündigung und Ausbeutung Dritter, zu einem greifbaren Massenphänomen in dem kolonisierenden Land auswächst. Sartre kam zu dem schlichten Fazit: Wir sind alle Mörder!
