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Ukraine: Bis zur bitteren Neige!

Wir alle kennen das. Es gibt Situationen, da muss man schnell reagieren. Zumeist, und das ist bereits nachgewiesen, spielt das, was als Bauchgefühl bezeichnet wird, die wichtigste Rolle. Alles Wissen und alle zur Verfügung stehenden Informationen haben in der Regel nicht das Gewicht wie der Bauch. Nun stellt sich das eine oder andere Mal heraus, dass dieses Gefühl nicht immer den richtigen Trend vermittelt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn eine allgemeine Stimmungslage vorherrscht, die jede Form des In-Sich-Gehens verhindert und übertönt. Dann kommen die Entscheider nicht einmal mehr dazu, auf ihren eigenen Bauch zu hören. Denn dann singt der Chor des richtigen Gefühls in voller Lautstärke und allein das Verlangen, einen Moment der Einkehr zu gestatten, wird als unerhörte Widerborstigkeit stigmatisiert.

Wenn wir ehrlich sind, und dieses Bekenntnis erhält man nicht selten hinter hervor gehaltener Hand auch von denen, die an den Entscheidungen beteiligt waren, hat die Weichenstellung im Falle des Ukraine-Krieges nicht das erbracht, was man sich erhofft hat. Ziel war der Ruin Russlands. Die Weigerung von Energieimporten aus Russland hat die Inflation befeuert, die immer weiter gesteigerten Waffenlieferungen haben die Ukraine nicht befreit und der Stapel von Sanktionserlassen hat, man muss dazu sagen, wie immer, nicht zur Schwächung des Gegners geführt, sondern die Armen auf allen Seiten getroffen. Wenn man es resümieren sollte, müsste man davon sprechen, dass das medial hergestellte Bauchgefühl hierzulande zu Entscheidungen geführt hat, die an Hirnriss nicht zu überbieten sind. Außer, auch das sei erwähnt, man wechselt die Perspektive und sieht das Ganze aus den Augen der USA. Dann macht das alles großen Sinn. Nur sollte das, aus hiesiger Sicht, nicht die Zielsetzung von Politik sein. Da geht es immer noch um die eigenen Interessen.

Nun gut. Kehren wir zurück in unseren Alltag. Was machen wir, wenn wir feststellen, dass wir im Eifer des Gefechts und beim hereinhören in unsere Bauchbefindlichkeit Entschlüsse gefasst haben, die sich sehr schnell als falsch, Selbstverleugnung und unsinnig herausgestellt haben? Wir gehen in uns, korrigieren die Fehler und kommunizieren unseren Sinneswandel mit allen, die beteiligt sind. Oder machen wir lieber weiter, weil wir selbst nicht zugeben wollen, dass wir falsch lagen? oder untersagt uns eine andere Instanz, dass wir den Mund halten und so weitermachen sollen, wie bisher und die Schäden hinzunehmen sind? Die erste Variante, die Fehlerkorrektur, wäre das Verhalten von vernunftbegabten, erwachsenen Menschen, die zweite das Bild eines bockigen Kindes und die dritte Möglichkeit der Spielraum eines Sklaven.

Nun können wir beobachten, angesichts der unglaublichen Entwicklung, dass trotz der offensichtlichen Fehlurteile hinsichtlich der Instrumente von Embargos, Sanktionen und Waffenlieferungen, von den Entscheidern im Land und der EU die einzige Konsequenz in der jeweiligen Eskalation gesucht wird. Und die von ihnen immer wiederholten Formulieren wie „as long es it takes“ etc. zeugen von dem Willen, eine falsche Politik bis ins Unendliche verfolgen zu wollen. Oder, wenn wir die im kollektiven Bewusstsein existierende Beschreibung zitieren wollen, dann heißt die Devise: Bis zur bitteren Neige. 

Das ist fatal. Und es zeugt von einer Abgehobenheit und mentalen Isolation vom Wahlvolk sondergleichen, wenn sich die Verschiebungen im Wählervotum bei Umfragen nie aus der eigenen Politik erklären, sondern lediglich aus dem boshaften Agieren von Staatsfeinden und Defätisten. Da ist schon ein wenig die Atmosphäre aus dem Führerbunker im Spiel. Oder nicht?  

Verschwörungstheorie und Ambiguitätstoleranz

Kürzlich hielt ein von mir sehr geschätzter Psychiater in kleiner Runde ein Referat über das Thema „Verschwörungstheorie“. Obwohl ich ein wenig befürchtet hatte, dass das durchaus wichtige Thema und verbreitete Phänomen unter seinem inflationären Gebrauch in den Sozialen Medien und in der Politik leiden würde, war dieses nicht der Fall. Der Mann wollte der Sache sowohl phänomenologisch als auch neurologisch und medizinisch auf den Grund gehen und landete bei seinem Exkurs zunächst – wen sollte es wundern – bei der Komplexität der Welt. Das ist eine seriös zu nehmende Feststellung, auch wenn sie im politischen Exkurs sehr oft als Totschlag-Argument bemüht wird, wenn andere, nicht konforme Deutungen artikuliert werden. Was aber dann folgte, quasi als mental zu nennende Bedingung und Strategie, um in einer komplexen Welt bestehen zu können, in der nicht jedes Phänomen gleich erklärt werden kann, war die Ambiguitätstoleranz.

Bei der Ambiguität handelt es sich um nebeneinander existierende Phänomene, die nicht unbedingt konkordant miteinander sind, die in ihrer Ko-Existenz verstören können und nicht zueinander passen.  Diesen disparaten Zustand tolerieren zu können, ist nicht nur hohe Kunst, sondern auch eine Grundvorraussetzung, um in derartigen Situationen bestehen zu können. 

So ist es kein Wunder, dass diese Ambiguitätstoleranz zu einer der wichtigsten Kernkompetenzen für auszusuchendes Führungspersonal ist. Jemand, der nicht in der Lage ist, bei einer größeren Anzahl von Unwägbarkeiten kühlen Kopf zu bewahren und sich trotz brennender Probleme nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, die vernünftige, tragfähige Entscheidungen erfordert, fällt durch das Raster bei der Auswahl von geeignetem Führungspersonal.

Eine Assoziation ging mir bei dieser Stelle nicht aus dem Kopf: Wie kann eine materialistische, technokratische Welt, in der permanent gemessen, gewogen und gezählt wird, wie sie wir hier im Westen repräsentieren, gegen die z.B. asiatische Fähigkeit, in der das Balancieren zwischen unterschiedlichen, sich widersprechenden Optionen von Kindesbeinen an zu den täglichen Übungen gehört, jemals ohne die Anwendung von Gewalt bestehen? Sieht man sich den Verkehr zwischen den unterschiedlichen Kulturen der Betrachtungsweise an, der in Form der Außenpolitik geregelt wird, dann offenbart sich das ganze Debakel. Seitens des Westens Drohungen, Ultimaten und Sanktionen, von Ambiguitätstoleranz keine Spur, es sei denn ein kurzfristiger Vorteil drängt sich auf. Von der anderen Seite des Tisches wird das genau registriert und es hat zu dem Abstieg geführt, der momentan weltweit zu spüren ist.

Und andererseits, bei der Betrachtung der hiesigen Akteure, die so gern mit dem Argument der Komplexität daherkommen: wer von ihnen weist ihrerseits oder seinerseits die Voraussetzung einer eigenen Kompetenz von Ambiguitätstoleranz auf? Wer in einem Handlungsrahmen unterwegs ist, der mit dem berühmten „There is no Alternative“ beschrieben ist, sollte das Wort Ambiguität erst gar nicht in den Mund nehmen. So grotesk es erscheint, sind diejenigen, die auf die Komplexität der Phänomene verweisen, selbst in keiner Weise dazu geeignet, mit ihr umzugehen. 

Insofern ist der psychologische und psychiatrische Blick auf das Phänomen der Verschwörungstheorie ein wichtiger Beitrag, um das gegenwärtige Handeln im politischen Diskurs einordnen zu können. Der Vorwurf, es handele sich bei anderen Deutungsversuchen um eine krankheitsbedingte Vorgehensweise, entstammt nicht selten aus einer längst pathologisch identifizierten Bestimmtheit. Oder ganz einfach ausgedrückt: wer selbst nicht in der Lage ist, ohne Gewaltausbrüche mit Unwägbarkeiten umzugehen, sollte seine eigene Unfähigkeit nicht auf andere projizieren. Im politischen Diskurs ist es um die Ambiguitätstoleranz schlecht bestellt. 

Das ganze Elend Europas

Ulrike Guérot, Hauke Ritz, Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – Und wie wir wieder davon träumen können

Manchmal reicht eine Talkshow, um aus einer veritablen Wissenschaftlerin einen Paria zu machen. So ist es Ulrike Guérot widerfahren, als sie den Fehler begangen hat, einer Einladung in die Sendung eines Markus Lanz zu folgen und sich dort von einem Konsortium von Kriegsbefürwortern auf den Anklagestuhl setzen zu lassen. Sie besaß dort nämlich die Frechheit, nach der Vorgeschichte und den Ursachen des Ukrainekrieges zu fragen und sprach dann noch die Notwendigkeit aus, diesen Krieg so schnell wie möglich beenden zu müssen. Kurz danach fragten bereits die ersten Eiferer, ob so ein Mensch eine Professur an einer deutschen Universität innehaben könne. Damit war ein Szenario entstanden, dem die Beklagte nun, zusammen mit dem Autor Hauke Ritz, in Form eines Buches zu begegnen sucht. Es handelt sich dabei um „Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können.“ 

Was zunächst, gemessen an den täglichen Nachrichten, wie eine ferne Angelegenheit erscheint, ist eng mit den heutigen Zuständen verbunden. Die beiden Autoren erzählen noch einmal die Geschichte eines europäischen Einheitsgedankens, der durch die Verheerungen von zwei Weltkriegen gespeist wurde und der durch die Versöhnung Deutschlands und Frankreichs und durch deren gemeinsames Vorgehen in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts Fahrt aufnahm. Alles, was bis vor wenigen Jahren als die Errungenschaften einer europäischen Einigung erlebt wurde, stammt aus dieser Zeit. Von der Überwindung der Grenzen bis hin zu einer einheitlichen Währung wurden große Schritte gegangen, die getragen waren von einer Vision, die als Erfüllung der europäischen Aufklärung anzusehen waren, von der Friedfertigkeit bis zur Pluralität, von autonomer Regionalität bis hin zu bundesstaatlicher Handlungsfähigkeit. 

Die Zäsur bildete das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die deutsche Einheit. In den USA, und damit kommen die Autoren zur Sollbruchstelle des Ganzen, sprach man vom Ende der Geschichte und schaute auf ein amerikanisches Zeitalter, das sich sehr schnell als ein Debakel für Europa entpuppte. Während die angelsächsische Welt an der alten Imperial-Theorie festhielt, einen Keil zwischen Russland und Rest-Europa treiben zu müssen, fand  dieses Rest-Europa nicht die Stärke, die eigenen Interessen in eine Politik der Selbstbestimmung und Selbstverortung münden zu lassen. Mit dem Regime Change in der Ukraine 2008 und der Zerreißprobe dieses Landes 2014 begann eine Periode der militärischen Aufrüstung, die umso mehr beeindruckt, als dass die wenigen Seiten in dem Buch durch die kalte Aufreihung der Manöver, Waffenlieferungen, Aufrüstungserklärungen etc. einem das bloße Entsetzen in die Augen treiben und das vorherrschende Narrativ von dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine als nackten Zynismus erscheinen lassen.

Europa, um das es in diesem Buch geht, hat in diesem Konflikt, der die Notwendigkeit für Europa negiert, Frieden nur mit und nicht ohne oder gegen Russland gestalten zu können, sein Gesicht verloren. Alles, was unter der Vision der europäischen Einigung in den Köpfen vorherrschte, Frieden, Demokratie, der Diskurs um die Wahrheit, die Toleranz und der Respekt, liegt nun din Trümmern auf einem Kriegspfad. Europa huldigt dem Nationalismus, Europa beschließt Sanktionen, Europa liefert Waffen.

Wie Europa wieder zu sich selbst finden könnte, das wird in einem letzten Kapitel beschrieben und sei all denen empfohlen, die in diesen vergifteten Zeiten die Hoffnung nicht aufgegeben haben. Es ist ein mutiges Buch, das nicht nur lesenswert ist, weil es den Konnex von einer formulierten Imperial-Theorie und einem strategischen Vakuum mit seinen dramatischen Folgen darlegt, sondern auch den ganzen Unsinn widerlegt, mit dem die klugen Köpfe Europas täglich belästigt werden.