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Präventive Begnadigungen und die individualistische Kernleere

Erst Raketensysteme, die weit auf russisches Territorium reichen. Dann international geächtete Streubomben. Kurz danach die Begnadigung des eigenen Sohnes. Joe Biden zeigt der westlichen, Werte orientierten Welt, wie man sich verhält, wenn einem nach den formalen Regeln der Demokratie durch Wahlen das Vertrauen entzogen wurde. Der feine Herr, der nach der Diktion der hiesigen Claque geliefert hat und nur deshalb die Macht nicht mehr halten konnte, weil er alt ist und sein sich bei einem schwarzen Baptisten eingehandeltes Double rhetorisch nicht in die Hall of Fame gehörte, legt noch immer nach. Jetzt, so wird berichtet, und nicht aus dem ausgemachten Verschwörungslager, sondern aus den Zentralen des Qualitätsjournalismus, plant der edle Atlantiker noch etwas ganz Großes. Etwas, das die Welt der Rechtssprechung in den Zonen der gerechten Welt noch lange beschäftigen wird. Joe Biden plant präventive Begnadigungen.

Natürlich geht es um Menschen, die politisch Biden und den Demokraten nahe stehen oder standen. Und selbstverständlich geht es darum, sie vor Übergriffen des  – nein, nicht durch einen Militärputsch, nicht durch ein Attentat und nicht durch eine lancierte Katastrophe, sondern durch freie und gleiche Wahlen legitimierten – nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten und dessen Rachsucht zu schützen. Es mögen sich alle einreihen, die noch in der Lage sind, sich die Augen zu reiben. Und vielleicht einmal, in einer Stunde der Erleuchtung, nachsinnen, wann es so etwas in der langen Geschichte des Römischen Rechts gegeben hat. Präventive Begnadigung! 

Und es wird, wie sollte es anders sein, im Tone einer alltäglichen Entscheidung. Mancherorts wird die autokratische Finte noch gefeiert. Und, da es so ist, und da es so ist, wie nicht anders erwartet, hat man sich ein weiteres Mal unwiederbringlich ins globale Abseits gestellt. Alle, egal welcher Kultur und welcher Staatsform, werden sich abwenden mit Entsetzen oder unverhohlener Freude. Da zeigt ein Kulturkreis, ein politisches System mit der dazu gehörigen sozialen Organisation, wie sehr es auf den Hund gekommen ist.  

Der Individualismus, der es mittlerweile bewerkstelligt hat, eine ethische Kernleere zu erzeugen, hat einen großen Vorteil für alle, die dort die Macht in Händen halten: die Freiheit ist grenzenlos. Grenzenlos groß, grenzenlos destruktiv und grenzenlos dekadent. Und keine Größe wäre noch da, die vor den Exzessen des Irrationalen warnen könnte. Denn eine Warnung beinhaltet die Möglichkeit, ein drohendes Unheil noch abzuwenden oder sich vor ihm zu schützen. Und eine Warnung ergibt keinen Sinn mehr, wenn sie den gegenwärtigen, längst etablierten Zustand nur noch beschreibt. 

Die einzigen liberalen Demokratien, über die der viel gepriesene Westen je verfügt hat, die britische, die französische und die der Vereinigten Staaten, dokumentieren zur Zeit, was aus ihnen geworden ist: ein Konfetti-Empire, ein von Staatskrisen geschüttelter Zentralismus, den auch unsere Notre Dame nicht mehr retten kann und ein Greiser Hegemon, der die Tischsitten vergessen hat und beim Abschiedsdinner rülpst und furzt, was die Därme hergeben.

Da könnte man, säße man mit am Tisch, aus Verzweiflung nur in selbigen beißen. Gäbe es da nicht kluge Menschen, die ihre Sinne beisammen hielten und einem gute Tipps zum Überleben geben. Einer raunte mir kürzlich zu, bei der Betrachtung der Weltlage doch einfach mal auf bestimmte Parameter zu schauen: Geburtenraten, Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung, Alphabetisierungsgrad, was die Jugend studiert und welche Berufe sie wählt. Und Recht hat er gehabt. Wenn man sich das anschaut, sieht man zumindest, wo die Vergangenheit liegt. 

Vom Römischen Recht und dem Schutz gegen den digitalen Trash-Orkan

Ferdinand von Schirach. Die Würde ist antastbar. Essays

Ein kleines Bändchen mit Reflexionen zu Themen der Zeit und zur eigenen Person, das vor zehn Jahren erschienenen ist, gehört in unseren Zeiten eigentlich bereits zu ständigen Remittenden. Stünde hinter dem unscheinbareren kleinen Buch nicht ein weltweit be- und geachteter Schriftsteller, der sich zu den legalen Drogen des Koffeins und Nikotins öffentlich bekennt, einen auf den Seiten der Geschichtsbücher dunklen Namen trägt und erst in seinem zweiten Leben das Schreiben zum Hauptberuf gemacht hat. Der ausgebildete Jurist Ferdinand von Schirach ist dieser Mann. „Die Würde ist antatstbar“ heißt der kleine Band, der nicht zu den Hauptwerken des Besagten zu zählen ist. Und dennoch oder gerade nach zehn Jahren sei die Lektüre unbedingt empfohlen. 

Denn die Themen, die behandelt werden, sind nicht nur brandaktuell, sondern die Hinweise, die Schirach in den Abhandlungen gibt, können angesichts einer weiteren historischen Entwicklung noch einmal in einem anderen Licht betrachtet werden. Die These, dass der Terrorismus über das Schicksal der Demokratie entscheidet ist virulenter denn je, wenn man sich die Dialektik der Maßnahmen gegen die Bekämpfung unter dem Aspekt ihrer Verhältnismäßigkeit ansieht. Eine Fragestellung, die Juristen immer umtreibt, die in der Politik allerdings allzu oft dem flächendeckenden Populismus zum Opfer fällt. Oder die Frage von Vorverurteilungen, die medial permanent stattfinden, die nahezu oft die vorgesehenen Verfahren gar nicht abwarten und sogar behindern und gleichzeitig in der Lage sind, Existenzen zu vernichten. Oder die Tendenz von Staatsanwaltschaften, eine eigene Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, die ebenfalls ein faires Verfahren zu kontaminierenden in der Lage ist. 

Die Brisanz der angeschnittenen Themen ist immer noch gegeben, wenn nicht sogar größer als zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift und des Erscheinens. Da hat jemand vor Tendenzen gewarnt, die sich leider etabliert und die Idee des Rechtsstaates schwer beschädigt haben. 

Zudem beinhaltet das Buch noch Aufklärungen, hinsichtlich des Schreibenden. „Über das Schreiben“ sollten all jene lesen, die denken, man setze sich hin, schreibe etwas nieder und fertig ist das Gedicht. Die Fragen zum eigenen Großvater, seinerseits der ehemalige Reichsjugendführer der NSDAP, lüften ein Geheimnis, das keines ist und seine Schilderung der Zeit im Jesuiten-Internat Sankt Blasien lassen vermuten, wie tief Disziplin und Langeweile bei der Herausbildung einer Persönlichkeit wirken können. Und das Bekenntnis zum IPad zeigt, dass ein vom Humanismus und dem Römischen Recht und der griechischen Philosophie geprägter Mensch alles andere ist, als ein analoger Eremit. Der Mann weiß, wie er sich gegen den digitalen Trash-Orkan schützen muss, um die Stringenz seines Denkens erhalten zu können. 

Ferdinand von Schirach. Die Würde ist antastbar. In jeder Lebenslage gut lesbar. Tiefsinnig wie inspirierend!