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Die alternde Gesellschaft und das Fieber der Vernunft

Von Jugend zu sprechen wäre etwas übertrieben. In einer Gesellschaft, die seit langem altert, ist das, was jede Jugend ausmacht, der Sturm und Drang, nicht in seiner gewohnten Dimension zu beobachten. In „jungen“ Gesellschaften wird rebelliert, das Alte verworfen, Neues ausprobiert, auch gegen massiven Widerstand und es werden neue Maßstäbe entwickelt. Das erzeugt immer Reibung, gehört aber zu den Notwendigkeiten, wenn es kollektiv weitergehen soll. Gesellschaften, in denen die Jugend nicht rebelliert, befinden sich bereits in der ersten Phase des Sterbeprozesses. Da helfen auch nicht die eifrig getätigten Importe junger Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, weil diese sich, wenn sie in dieser Gesellschaft etwas werden wollen,  zunächst assimilieren müssen. Ansonsten gilt die Integration ja als misslungen. Alles andere ist eine Illusion.

Die Bilder jedoch, die unsere Gesellschaft nahezu am Fließband produziert, übrigens ein Mechanismus, den die tatsächlich Jungen gar nicht mehr kennen, erzeugen den Schein ewiger Jugend. Tatsächlich vorgezeigte Jugendliche sind quantitativ im Verhältnis zur realen Population überpräsentiert. Eskortiert wird diese minimal real existierende Jugend von Alten, die den Status ewiger Jugend seit langem für sich reklamiert haben. Es ist die Jeunesse Dorree mit einem faden Beigeschmack, deren historisches Vorbild bereits ein Ausbund der Reaktion darstellte. Sie stellte sich nach dem Sturz Robespierres gegen die Revolution. Und die Art, wie sie damals argumentierte, findet sich in dem zeitgenössischen Ableger verblüffend wieder.

Diese Spezies beruft sich auf ihre zurückliegende Jugend, in der sie tatsächlich rebelliert hat. Zwischen dieser Zeit des Sturm und Drang liegen Jahrzehnte und eine soziale Assimilation an den gesättigten Konsumstatus. Das spricht einerseits für die Vergangenheit des Systems, in dem sie aufwuchsen und das dieser Gruppe den Aufstieg ermöglicht hat. Anderseits ist der Aufstieg mit einem konsumistischen Konservatismus verbunden, der durch keine Form der Dekoration kaschiert werden kann. Auch nicht durch Charity, auch nicht durch ehrenamtliches Engagement und auch nicht durch irgend ein Wahlverhalten. All das ist im einen oder anderen Fall nobel. Es ersetzt aber nicht die gesellschaftliche Notwendigkeit einer gründlichen Rebellion gegen die etablierten Sitten.

So ist es kein Wunder, dass diese Jeunesse Antique ihrerseits Schimären produziert oder diesen aufsitzt, die nichts mit dem zu tun haben, was Gesellschaften als Innovationsimpuls brauchen. Fortschritt, so wusste der Pionier Bertolt Brecht, bedeutet fortschreiten, und nicht, fortgeschritten sein. Diese einfache Wahrheit hat das etablierte Spießbürgertum, von dem hier die Rede ist, nicht zur Kenntnis genommen. 

Und so ist es kein Wunder, dass die schreiendsten Widersprüche, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist, von diesem Ensemble nicht zur Kenntnis genommen oder ausgeblendet werden. Stattdessen werden Geschichten von der Rettung des Planeten ersonnen und tausendfach erzählt, die eines gemein haben: Sie lenken ab von den tatsächlich tödlichen Gefahren. Man muss sich schon sehr mit Illusionen oder Delikatessen betäubt und vollgestopft haben, um so einfache Fragen wie die nach den Interessen bei Kriegen oder bei den gegenwärtigen Eigentumsverhältnissen nach der sozialen Disposition einer Gesellschaft nicht mehr zu stellen. Das Interesse bei den gegenwärtigen Kriegen ist sehr leicht zu beantworten. Und die Eigentumsverhältnisse, d.h. die Trennung von Arm und Reich, entsprechen der düstersten Dystopie. 

Die allgegenwärtigen Edelkomparsen des Stillstandes ersetzen nicht das Fieber der Vernunft, wie La Rochefoucauld die Jugend so treffend genannt hat.  

Ordnung, Rebellion und das Ungewisse

Paul Feyerabend nannte es einmal „Wider den Methodenzwang“, eher humoristisch gemeint war die Ansage, dass Ordnung nur für die eine wichtige Sache sei, die zu faul seien, um zu suchen. Die Antipathie gegen Ordnung und Methoden vermittelt Sinn, wenn sich der Verdacht erhärtet, dass sie zur Beherrschung benutzt werden. Und Beispiele existieren tatsächlich in großer Menge. Ordnung und Disziplin sind die Grundstruktur hierarchischer Systeme und die meisten Methoden folgen einer sehr genau definierten Zweckrationalität. Es stellt sich immer die Frage, in wessen Interesse die Ordnung und Disziplin walten und welchem Interesse die Methoden folgen. Ist beides repressiv, so ist die Ablehnung durchaus berechtigt. Aus einer Kritik gegen bestimmten Formen von Herrschaft kann so die Auflehnung gegen Ordnung und Methode generell erfolgen. Das ist vielleicht das Wesen dessen, was mit dem Adjektiv antiautoritär bezeichnet wurde. Die Rebellion gegen bestimmte Formen von Unterdrückung kann einen befreienden Charakter haben, aber allein bleibt sie folgenlos.

Das Leben des Individuums bildet in der existenziellen Welt einen Mikrokosmos. Es ist folgerichtig, dass das Mikrosystem Mensch ebenfalls einer bestimmten Systematisierung seiner Handlungsabläufe unterliegt. Das kann eine bewusste Entscheidung sein, die dem Individuum selbst entstammt und von keiner Hierarchie suggeriert wurde. Die Etablierung von Routinen, die immer auch eine Ökonomisierung des Daseins bedeuten, verschafft Lebenszeit, die zur Gestaltung genutzt werden kann. Die Systematisierung dieser Abläufe basiert in der Regel auch auf Ordnungsprinzipien und bestimmten Methoden, um Ungeliebtes, aber Nützliches in seiner Zeitbeanspruchung zu verdichten und diese Rationalisierung dem Konto frei verfügbarer Lebenszeit gutzuschreiben.

Die Rebellion gegen die Rationalisierung und Systematisierung des Lebens hat mit brutaler Gesetzmäßigkeit auch immer dazu geführt, dass die Rebellierenden irgendwann die Fähigkeit einbüßten, sich der Organisiertheit des repressiven Systems zu erwehren. Es handelt sich um einen klassischen Fall von Dialektik: Das, was als Macht anderer bekämpft werden soll, birgt auch den Keim dessen, diese fremde Macht zu bekämpfen. Ohne eigene Rationalisierung verpufft der Esprit der Rebellion in Belanglosigkeit. In der übermäßigen Adaption der Rationalisierung wiederum erstirbt die Kreativität und der Esprit der Rebellion. Die Dosis macht es, die Geschichte ist ein beredtes Journal für den Rationalisierungswahn, von Robespierre bis Lenin, aber auch für das Abgleiten in die den Gestus der Rebellion, wie bei den Aktionisten und Situationisten, denen die Geschichte nur Augenblicke zur Verfügung stellte, um ihr Ansinnen transparent zu machen. Und berechtigterweise stellt sich die Frage, ob die richtige Dosis je gefunden wurde. Sie experimentell zu suchen und vielleicht irgendwann zu bestimmen, bleibt die Aufgabe.

Vieles deutet darauf hin, dass es nicht um Ordnung und Methode, sondern um die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Zukunft geht. Das notwendige Denken ist die Schwierigkeit, die Identifizierung der repressiven Ordnung und Methode und die Notwendigkeit der Rationalisierung von Widerstand. Dieser Widerstand allein genügt jedoch nicht, er muss eine Vision von dem Neuen, nach dem gestrebt wird, entwickeln. Es geht um Lebensformen, die aus den Erfahrungen der alten hervorgehen und in der Lage sind, das schlechte und falsche Leben abzulegen. Ihr Geist ist zumeist präsent, aber ihre Form bleibt ein Mysterium. Diese Unauflösbarkeit kann zur Verzweiflung treiben und sie kann entmutigen. Aber sie zu suchen, das ist das Mandat derer, die bei der Kritik des Alten nicht stehen bleiben wollen. Ihr Bemühen mit Abwinken zu begleiten bringt exklusiv nur einem Gewinn: der alten Ordnung und den alten Methoden.