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Zur Psychopathologie des Nicht-Entscheidens

Entscheidungen zu treffen gehört zu der menschlichen Existenz wie das Atmen. Sicherlich gibt es wissenschaftlich basierte Zahlen darüber, wie oft ein Mensch täglich Entscheidungen trifft. Es ist anzunehmen, dass dieser Akt in die Hunderte und Tausende geht. Das geschieht oft nicht bewusst, sondern unterhalb der direkten Wahrnehmung, aber der Akt selbst findet statt. Daher ist es eine Fehlannahme zu behaupten, bestimmte Menschen seien entscheidungsschwach. Auch sie treffen diese große Anzahl von Entscheidungen täglich. Diese Menschen, die gemeint sind, tun sich in der Regel mit einer bestimmten Art von Entscheidung schwer. Es handelt sich dabei um diejenige, die erstens bewusst geschieht und zweitens eine gewisse Öffentlichkeit mit sich bringt. Diese Öffentlichkeit erzeugt einen Druck auf das entscheidende Individuum. Dieser Druck kann am besten mit dem Terminus der Verantwortung beschrieben werden.

Entscheidungen in der Öffentlichkeit zu treffen bergen ein größeres Risiko. Und die riskantesten Entscheidungen werden auf dem Feld der Politik getroffen. Dort geht es schließlich um die Sache der Allgemeinheit. Wenn dort Entscheidungen getroffen werden, die sich als falsch oder wenig vorteilhaft herausstellen, dann ist das besonders folgenreich für diejenigen, die die Entscheidung zu verantworten haben. Deshalb nehmen viele Prozesse, deren Verlauf von schnellen Entscheidungen profitieren würde, großen Schaden, weil gerade dort das Ganze ins Stocken gerät. Um den möglichen Schaden zu begrenzen, geschieht das, was allgemein den Zauderern zugeschrieben wird. Es wird abgewartet, ob nicht doch noch etwas geschieht, was die Rahmenbedingungen verändern könnte, es werden zusätzliche Informationen eingeholt, die die Grundlage vielleicht bereichern könnten und es werden Meinungen eruiert, die besagen, was von den Entscheidern erwartet wird.

Die Beschreibung der Krise des Tempos bei Entscheidungen im politischen Raum erinnert daran, worin die Kritik im Allgemeinen besteht. Sie besteht an der völlig menschlichen Regung, sich abzusichern, bevor man ein Risiko eingeht. Dennoch ist die Kritik berechtigt, weil eine Politik der zeitraubenden Entscheidungen oder gar der Nicht-Entscheidungen das Gemeinwesen nachhaltig schaden kann. Es wäre einzuwerfen, dass jedes Volk die Regierung hat, die es verdient. Und auch daran ist etwas, das erschrecken sollte. In den letzten 34 Jahren regierten Kohl und Merkel zusammen 27 Jahre, unterbrochen von Schröder zwischen 1998 bis 2005. In diesem gewaltigen Zeitraum dominierte das extrem langsame, meistens sogar das Nicht-Entscheiden. Zu konstatieren bleibt da nur, dass alle der genannten Regierungen frei gewählt waren und nicht Folge irgendeiner Machtergreifung And Ruder kamen.

Es besteht also ein sehr enges Band zwischen der im politischen Alltag verbreiteten Skepsis, weitreichende Entscheidungen zu treffen und dem allgemeinen Willen, dieses auch gut zu heißen. Dennoch wäre anzumerken, dass zwischen der im Deutschen verbreiteten Vorstellung, dass Gutding Weile will, was eine vernünftige Einstellung ist, und der akzelerativen Prozesse des technokratischen Zeitalters eine Diskrepanz besteht. Und die Antwort, die besagen würde, wir nehmen uns jetzt Zeit, weil uns das alles sehr wichtig ist, die wird zumeist so nicht artikuliert. Das Problem besteht eher darin, die Dinge ohne eine solche Äußerung laufen zu lassen. Das aber, und es ist täglich zu beobachten, schafft harte Fakten, die unabhängig vom bewussten Entscheidungsprozess das Leben zu beherrschen beginnen.

Die mittlerweile im etablierten Herrschaftsstil der Republik manifeste Psychopathologie des Nicht-Entscheidens ist schon lange keine Garantie mehr auf Verschonung. Wer in der kurzatmiger wedelnden Welt nicht Stellung bezieht, wird überrannt werden. Ob das nun gefällt oder nicht.

Glücksritter und Verfahrenspriester

Und täglich von neuem: In der Krise manifestieren sich Risiken wie Chancen. Die Form, in der sich das Management von Krise offenbart, gewährt immense Chancen für eine Diagnostik über die Organisation insgesamt. Wird nach Lösungen gesucht? Werden Chancen geortet? Werden Potenziale gesichtet oder erhellen neue Erkenntnisse und positive Lernprozesse den dunkel erscheinenden Horizont? Das negative Pendant sieht die Risiken und Gefahren, die Vorkommnisse, die notwendigerweise zu einem kollektiven Ende führen müssen und die Unabänderlichkeit, mit der das Schicksal besiegelt ist. Am Ende steht die kollektive Depression, in Deutschland zumeist noch der kollektive Amoklauf. Auch der deutet sich in Konturen an.

Gegenwärtig ist noch ein anderes Phänomen zu beobachten. Die, die nach Lösungen suchen, sind in der Minderheit, die, die bereits den Untergang zelebrieren, wachsen in ihrer Zahl, bilden aber nicht die Mehrheit. Letztere, und zwar die überragende, lässt sich in anderen Verhaltensmustern finden, die zum Teil erprobt und zum Teil neu sind. Eine Variante vermutet in der Krise nicht die Chance der Lösung, sondern die Chance der Verbesserung der eigenen Ausgangslage. Da werden taktische Vorteile gesucht, da werden Besitzstände gewahrt und neue erfochten. Da wird die Krise zum Anlass genommen, um andere über den Löffel zu barbieren und die eigenen Depots prall zu füllen. Das Muster hat sich zu einem Massenphänomen entwickelt und ist in unzähligen Situationen zu beobachten. Die Krise ist der Vorwand für neue Spielregeln, die Argumentation appelliert an den Gemeinsinn, aber Zweck ist der eigene Vorteil.

Eine andere Variante, die weder mit Bewältigung noch mit Depression verwandt ist, und die auch nicht als Phänomen der Verdrängung identifiziert werden kann, ist die exzessive Zuwendung der Aufmerksamkeit auf die Verfahren. Ja, auch die Systemtheorie spricht von der Legitimation durch Verfahren. Aber dieses Memento wirkt nur, wenn die Verfahren ein bestimmtes Ziel verfolgen. Die Verfahrensexzesse, die gegenwärtig zu erleben sind, haben sich selbst als Ziel. Sie sind das Ergebnis einer Verselbstständigung der Mittel.

Das Phänomen der Instrumentalisierung der Welt ist nicht neu. Das hat es immer gegeben. Und in Zeiten der gediegenen Saturiertheit ist es gar nicht so ungewöhnlich, mit den Instrumenten zu spielen anstatt sich den essenziellen Fragen der Zielerreichung und Lebenswirkung zu stellen. In Zeiten der Krise jedoch dokumentiert die exzessive Aufmerksamkeit auf Qualität und Beschaffenheit von Verfahren eine ebenso entwickelte Ignoranz gegenüber der Dringlichkeit von Handlungen. In der Not, so heißt es, frisst der Teufel fliegen. Da sitzt er nicht am Tisch und pocht auf das Drei-Gänge-Menü, das er normalerweise an diesem Tag gewohnt ist. Die Verfahrenspriester aber sind keine Teufel, die sich aufs Überleben verstehen.

Es erscheint eher so, als seien die Glücksritter, die aus der Krise Profit schlagen wollen und die Verfahrenspriester, die das Ritual höher einschätzen als die Füllung de Mägen, Agenten dieses Teufels. Der Teufel selbst wird überleben, weil er das Spiel schon tausendmal gespielt hat und er weiß, dass Fliegen Eiweiß enthalten. Die Glücksritter werden sich wohl gegenseitig erlegen und die Verfahrenspriester werden gar nicht erst bemerken, wenn sich ihr Debattiertisch bereits im Jenseits befindet.

Es ist ein schlimmes Wort, das abgedroschener nicht sein könnte. Aber dieser Umgang mit Krise, der nun durch das Land geht, der peitscht es immer wieder auf die Zunge. Der Schrecken, den es erzeugt, hat einen Namen: Es ist die Dekadenz.