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Im kollektiven Amok

Natürlich wirkt es befreiend, ab und zu einmal Dampf abzulassen. Alles, was sich aufstaut, drängt darauf, der Begrenzung zu entfliehen. In bestimmten Kulturen, in denen gerade dieses Freilassen von Frustration, Unwillen oder Zorn als ungebührlich gilt, kommt es zuweilen zu extrem destruktiven und pathologisch zu nennenden Exzessen. In Südostasien zum Beispiel. Da nennt man das Phänomen dann Amok, ein in unseren Breitengraden allzu bekannter Begriff. Nach der dortigen Definition sind Amokläufer diejenigen, die irgendwann nicht mehr die Kontrolle über ihre Gefühlswelt haben und dem Druck der gesellschaftlich aufoktroyierten Harmonie nicht mehr standhalten. Dann ist alles verloren, sie ziehen los, sie brandschatzen und sie morden. 

Doch nicht nur in Südostasien, sondern auch in dem klassisch europäischen Kulturkreis, vor allem zu Zeiten des Römischen Imperiums, das unsere Gesellschaften nicht unerheblich beeinflusst hat,  galt die Beherrschtheit als eine der obersten Tugenden. In den Schriften derer, die bis heute sogar in Schulen gelesen werden und die sich immer wieder mit dem, was sie res publica, sprich das Gemeinwesen, den Staat, die Politik, die Römische Republik nannten, finden sich unzählige Hinweise auf die existenziell notwendige Fähigkeit der Bürger, sich zu mäßigen. Trotz aller Berechtigung von Empörung und Zorn sollte es den Betroffenen möglich sein, ohne große Gefühlsregungen den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten zu beschreiben, zu betrachten, zu analysieren und daraus vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die zentralen Begriffe, die diese Fähigkeit umschrieben, waren Mäßigung und Gelassenheit.

Wie gesagt, um nicht ins Pathologische abzugleiten, ist es aus Autohygiene ab und zu notwendig, den eigenen Unwillen mitzuteilen und nicht alles, wie wir so treffend ausdrücken, in sich hineinzufressen. Die Entwicklung unserer Gesellschaft hat jedoch einen Pfad aufgenommen, der in eine andere Richtung weist. Durch die nahezu exklusive Sicht auf das eigene Befinden ging mit der Zeit der Kompass für die gesellschaftlichen Notwendigkeiten verloren. Ohne ein anderes Kapitel zu öffnen, sei bemerkt, dass der einem extremistischen Liberalismus entspringende Individualismus diesen Weg bereitet hat. Die ständige Introspektion, die flächendeckende Dokumentation der eigenen Befindlichkeit hat gesamtgesellschaftlich zu einem Zustand geführt,  der vielleicht am besten mit einem kollektiven Amok verglichen werden kann. 

Wer, und seien wir durchaus selbstkritisch, kann noch an sich halten, wenn er Äußerungen anderer hört oder zu Gesicht bekommt, in denen seine Erfahrungs- und Empfindungswelt ganz und gar nicht zu finden ist?  Wem gelingt es dann, innerlich einen Schritt zurückzutreten und das Gesagte in einem Bild über die gesellschaftlichen Zustände wiederzufinden und einzuordnen?  Und wer käme dann auf die Idee, auf dieser Basis einen Dialog zu führen? 

Und so, als hätten die überall lauernden Kontrahenten die Verantwortung für die eigene, überstrapazierte Duldsamkeit und das ganze Unglück dieser Welt zu tragen, verfallen die Erniedrigten und Beleidigten übereinander her und tragen zu dem Zustand des kollektiven Amoks bei. Die nicht nur reklamierte, sondern auch erforderliche Gelassenheit für einen produktiven gesellschaftlichen Diskurs ist dem Zustand der Überhitzung und der destruktiven Impulse gewichen. 

In Südostasien hat man übrigens wenig Skrupel mit den armen Seelen, die unter das Joch des Amok geraten sind, kurzen Prozess zu machen. Sie gelten dann als eine gesellschaftlich kollektiv verschwiegene Episode, über die niemand mehr spricht. Aber hier, als Massenphänomen, gliche so etwas einem gemeinschaftlichen Suizid. Sollte das tatsächlich die Alternative sein?

Gesellschaftliche Kohäsion

Die Frage, was die Welt zusammenhält ist vom Abstraktionsgrad vielleicht etwas anspruchsvoller. Jedoch wesentlich wichtiger, vor der kosmischen Dimension, scheint in vielen Gesellschaften, selbst in unterschiedlichen Zivilisationen, die Suche nach einer Antwort für das mentale Auseinanderdriften der Gesellschaften selbst zu sein. Was hält letztendlich Gesellschaften zusammen, was macht sie aus, die viel zitierte, aber kaum noch vernehmbare Kohäsion?

Die Symptome, die den Zerfall bezeugen, sind schnell aufgezählt. Da ist vor allem die Individualisierung, die zu dem geführt hat, was sich zynisch anhört und historisch auch wohl so etwas ist, das Post-Heroische. Warum, so die kritische Nachfrage, ist wird eigentlich etwas als Heroisch bezeichnet, das die Loyalität des Individuums zur Gemeinschaft beschreibt? Wie suizidal ist da bereits die Eigendynamik der Individualisierung, dass die existenzielle Komponente des Menschen, ein soziales Wesen zu sein, als eine Kuriosität aus dem Militärmuseum betrachtet wird? Und da ist die Kompensation des Sozialen durch den Konsumismus, der die Gestaltungskraft zerstört und die positiven Energien, die dem Erfolg durch Leistung zugrunde liegen, systematisch zerstört. Der Individualismus berauscht sich in einer strukturellen Passivität, die nichts zu erzeugen mag als Frustration.

Das Einzige, was noch zu funktionieren vermag, das sind die Schuldzuweisungen an die Gesellschaft. Genau das Gebilde, das von niemandem mehr bedient wird, diese ausgehöhlte Entität vergangener Zeiten, soll plötzlich die Ursachen geschaffen haben für die vielen Frustrationen und all die Zerstörung, die in den wenigen wachen Momenten noch wahrgenommen wird. Es ist ein klägliches Bild, das die von den ebenfalls im Zynismus versunkenen Soziologen als Hedonisten Bezeichneten abgeben. Sie scheren sich nicht um die Sache der Öffentlichkeit, das Gemeinwesen, aber sie bezichtigen das Gemeinwesen der systematischen Verschlechterung ihrer eigenen Lebensbedingungen.

Es sticht ins Auge, dass gesellschaftliche Kohäsion in diesem Spiel einen schlechten Stand haben muss. Und da der Stand schlecht ist, herrschen Erosion und zentrifugale Kräfte. Und dieser Prozess wiederum wird von den Protagonisten des Individualismus dem Gemeinwesen zugeschrieben. In der Logik nennt man so etwas eine Tautologie. Vom politischen Standpunkt her ist es einfach ein bereits großes Maß an Verkommenheit. Denn Politik ist immer die Dimension des Diskurses um das Gemeinwesen. Und bleibt sie bei dieser originären Verpflichtung, dann dürfte sie nur sprechen über die Dekadenz, die der egomanische, gefräßige Individualismus hervorgebracht hat.

Und jetzt befinden wir uns an dem Punkt, der wahrscheinlich das Wesentliche dieser Frage beschreibt: Wie kann ein Metier, das aus dem Diskurs um das Gemeinwesen geboren wurde, zu einer Branche werden, in der es legitim ist, nur noch das Partikulare zu vertreten? Es ist ein Zustand, der selbst in den beschleunigten Zerfallsphasen des römischen Imperiums nicht festzustellen war. Persönliche Bereicherung schon, aber die Res Publica, die Sache der Gemeinschaft, war die absolute Bezugsgröße einer jeden Argumentation im Senat. Wer dieses Paradigma in Frage gestellt hätte, dem hätte das Spartakistenschicksal an der Via Appia gewunken. Heute hingegen sind es Rechte des Individuums, die über dem Gemeinwohl stehen oder gar Sachzwänge.

Mit dem Einzug des Sachzwangs hat sich das politische Gemeinwesen auf jenen Tiefpunkt zubewegt, von dem aus nichts Positives hinsichtlich der Initiation von Gesellschaften mehr beschrieben werden kann. Es ergibt keinen Sinn, sich über mangelnde gesellschaftliche Kohäsion zu beklagen, wenn alle Voraussetzungen für gesellschaftlich sinnvolles und sinnstiftendes Handeln bereits ausgeräumt sind.

Kobolde erklären die Welt

Die Szene von Friedrich Dürrenmatt beschrieb das Problem in der wohl eindrücklichsten Weise. Da sitzt der Wissenschaftler, der monatelang nach der Formel für die H-Bombe geforscht hatte, letztendlich mit Erfolg, erschöpft und glücklich an seinem Schreibtisch und lässt den Blick schweifen. Dabei sieht er seine Blumen, welk und verdorrt, er hatte sie völlig vergessen in seinem Eifer. Nun betrachtet er sie und weint, weil sie nicht mehr sind.

Die Spezialisierung und die Verfleißigung der Disziplinen sind das Ergebnis einer Revolution des Geistes. Nur durch die Aufklärung konnte der Weg frei gemacht werden für die bedingungslose Verfolgung des Details. Dass damit der Blick für das Ganze, vor allen von den größten Spezialisten, verloren gehen und sich dadurch eine fatale Wahrnehmung der Welt ergeben kann, gehört zu den Gefahren, die die Aufklärung mit sich brachte.

Der Blick für das Ganze ist in unseren Tagen, die eine Rückschau auf das Weltgeschehen bieten, die ermutigt und schockiert zugleich, in der die Irrtümer der Aufklärung mehr Opfer nach sich zogen als die Inquisition des Mittelalters, der Blick auf dieses Ganze ist die einzige Möglichkeit, gegen weitere Destruktionswellen ungeahnten Ausmaßes gefeit zu sein. Der Blick auf das Ganze außerhalb der rein privaten Lebenswelt ist das Metier der Politik. Ohne Politik existiert der Blick aufs Ganze nicht.

In diesen Tagen erleben wir jedoch eine andere Entwicklung. Im Zustand der Krise, die immer ein konzentrierter Ausdruck systemischer Spannungsfelder ist, kommen außer den Parteitrommlern kaum noch Menschen zu Wort, die durch ihre Fähigkeit zu politischem Denken und politischer Analyse bestechen. Selbstverständlich gibt es sie im Land, aber die offizielle Politik, d.h. die Regierung, sie besteht aus einem Personalkörper, der sich paradoxerweise des politischen Denkens entledigt hat.

Stattdessen, um dem Volk nicht die Politik, sondern den Weg der Regierung zu erklären, tauchen Vertreter genau der Gewerke auf, die Dürrenmatt in ihrer Weltverfremdung so treffend beschrieben hatte. Es sind immer dieselben, die sich aufdrängen, weil auch im Metier der Wissenschaften zuweilen noch ein Kodex herrscht, der verbietet, in fremden Wassern zu fischen. Diejenigen allerdings, die sich da medienwirksam verdingen, haben sich aller Kodizes entledigt. Wie der Ökonom mit dem merkwürdig verfremdenden Namen Sinn, der die Welt seinen Theorien anzupassen sucht. Was herauskommt ist eine Karikatur des Captain Ahab, einem Markenzeichen traniger Schuldentheorien. Oder jener Historiker Winkler, dem man wünschte, er verbrächte seine ganze Zeit beim Studium schwer zugänglicher Quellen, denn sein Predigerton bei der Erklärung der Welt macht auch ihn zu einer Karikatur. Absurdere historische Analogieschlüsse als er kann man nicht konstruieren, die Klügeren werden es sich sparen, seine als Standardwerke gepriesenen Bücher nach diesen Auftritten auch noch zu lesen.

Aber wollen wir gerecht sein! Letztendlich ist es nicht den erwähnten Zünften, der Ökonomie wie der historischen Wissenschaft, anzulasten, dass sie auch Kobolde hervorbringen, die sich im Besitz der Weltformel glauben. Die Kritik muss sich gegen die wenden, die keine politische Vorstellung besitzen, obwohl sie die Ämter von Politikern bekleiden. Sie sind es, die dabei sind, res publica, die Sache der Öffentlichkeit, aufgrund ihrer eigenen Phantasielosigkeit an Hasardeure und Scharlatane zu verschleudern. Die Hasardeure sind die Finanzoligarchen, die Scharlatane jene Wissenschaftler, die deren Spielerei auch noch als Notwendigkeit zu erklären suchen.