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Die Sklavenroute gehört zum Jazz wie die Blue Notes

Marcus Miller. Afrodeezia

Manchmal ist auch die Reaktion auf ein neues Album der Schlüssel zu Dechiffrierung dessen, worum es geht. Das hört sich schräg an, lässt sich aber anhand der neuen CD von Marcus Miller, Afrodeezia, sehr gut illustrieren. Marcus Miller selbst steht für seine Pionierarbeit im Bass getriebenen Jazz, er steht für atemberaubende Kooperationen und er steht für die Orientierungssuche im zeitgenössischen Jazz. Insofern könnte man ihn als Kronzeugen für alles, womit der Jazz zu kämpfen hat, mit heranziehen. Mit seiner letzten CD, Renaissance, hat sich der Amerikaner zu den immer noch vitalen Wurzeln bekannt. Nun, mit Afrodeezia, greift er auf einen Gründungsmythos des Jazz selbst zurück.

Seit seiner Reise in den Senegal und der Besichtigung der Verschleppungs- wie Verschiffungsrouten für Sklaven lässt ihn der Gedanke an die Geschichte der heutigen Afro-Amerikaner nicht mehr los, Miller ist mittlerweile auch im Auftrag der UNO unterwegs. Mit Afrodeezia hat er sich dieser Thematik exklusiv gewidmet. Was dabei herauskam ist im positiven Sinne ein Konzeptalbum mit insgesamt 11 Titeln, die sich der Sklavengeschichte in Afrika widmen. Die musikalische Gestaltung der Themen wird mit dem Einsatz afrikanischer Instrumente und einer sehr variationsreichen Percussion unterstrichen. Exakt bei der Hälfte der Stücke aktiviert Miller mit Papa Was A Rolling Stone den aktuellen Bezug zum heutigen Nordamerika, das Zurückreichen der Reise nicht vom Mississippi-Delta nach Chicago, sondern bereits vom Senegal in den Hafen von Baltimore. Das ist historisch nicht nur authentisch, sondern musikalisch mittlerweile rekonstruierbar.

Dass bei der tonalen Gestaltung in diese historische Reise immer wieder Fragmente eines weltmusikalischen Konzeptes auftauchen, liegt in der Natur der Sache und dass der mit der Modernität kämpfende, urbane Jazz davon keinen Innovationsimpuls erhält, ist logisch. Die Kritik bezieht sich nämlich genau auf diese Kernpunkte. Mangelnde Innovation und zu viel Weltmusik. Dass, analog zu Renaissance, wo Blues und Improvisation eine entscheidende Rolle spielten, nun Marcus Miller mit der historischen Politisierung seiner Träger die sozialgeschichtliche Dimension des Genres in der Vordergrund rückt, dokumentiert, dass dieser außergewöhnliche Bassist nicht durch seine musikalische Welt irrt. Ganz im Gegenteil: Miller arbeitet seit einiger Zeit die Wesensmerkmale des Jazz noch einmal heraus, um deutlich zu machen, worauf es auch bei einer Weiterentwicklung ankommt. 

Mit Hylife, B´s River Preacher´s Kid und We Were There wird die historische Dimension thematisiert, besonders mit Stücken wie Son Of Macbeth, Prism und Xtraordinary werden die eher zeitgenössischen Aspekte dieses Humantransfers behandelt, der Welt der Täter wie der Opfer, deren Trennlinien zunehmend verschwinden. Zusammen mit einer hervorragenden Band und nicht weniger bedeutenden Gästen wie Ambrose Akinmusire, Robert Glasper, Chuck D, Keb’ Mo’, Lalah Hathawa ist so ein Album entstanden, dass aus dem Rahmen fällt und ihn dennoch herstellt. 

Die Sklavenroute gehört zum Jazz wie die Blue Notes. Marcus Miller hat sich ein Herz genommen, um auf diesen essenziellen Sachverhalt hinzuweisen. In Zeiten zunehmend unpolitischer Diskurse in und um die Musik kann diese Geste nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und musikalisch, musikalisch rangiert Afrodeezia sicherlich in Höhen, in die monothematische Modernitätsfanatiker erst noch aufsteigen müssen. Manchmal ist die Geschichte revolutionärer als das Hier und Jetzt.

Eine Renaissance des Revisionismus

Unter dem Begriff Revisionismus können sich in der Regel nur jene Zeitgenossen etwas vorstellen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Biographie ein größeres Veränderungsvorhaben direkt miterlebt haben. Letztere bringen es nämlich mit sich, dass sie das Gegenwärtige jeweils richtig ins Wanken bringen und den Zustand derer, die sich in dem Kraftfeld der Veränderung befinden, gravierend beeinflussen. Viele müssen Macht und Einfluss abgeben und verlieren an Ressourcen, andere wiederum sind die Nutznießer. Ein derartiger Prozess bringt vieles aus dem gewohnten Lot und neben der anfänglichen Euphorie, die das Neue begleitet, macht sich mit Sicherheit auch irgendwann ein Gegengefühl breit, das Ängste schürt, vieles schwarz malt und zur Umkehr mahnt. Nicht selten sind das die Stimmen des Gestern, derer, deren Einfluss schwindet, aber eben nicht immer. Manchmal sind es einfach nur Unsicherheiten, die aufgrund gezielter Kommunikationsdebakel derer, die nichts mehr zu verlieren haben, entstanden sind. Manchmal sind es auch nur Anpassungsdepressionen. Für diejenigen, die einen solchen Prozess zu verantworten haben, sind es die Momente der Wahrheit.

Ein immer wieder zu beobachtendes Muster in dieser beschriebenen Veränderungskrise ist das folgende: Die Veränderung schreitet voran und hat bereits den eigentlich kritischen Punkt sogar überschritten. Es beginnt eine an Hysterie grenzende Kritik an den Protagonisten der Umgestaltung. Die Auftraggeber distanzieren sich von den Protagonisten, in dem sie zuwarten oder lediglich moderieren. Wie aus dem Nichts steigen eine neue Terminologie und ein neuer Begründungszusammenhang auf, die sich von der Philosophie des Wandels kaum unterscheiden, aber ihren Geist dennoch revidieren. Alle, die unter der Veränderung gelitten haben, atmen befreit auf, die Agenten des Wandels werden zum Teufel gejagt. Das ist die Stunde des Revisionismus.

Betrachten wir uns die wenigen Prozesse, die gegenwärtig in Deutschland grundlegende Veränderungen zum Ziel haben, dann ist auffällig, dass diese fast allesamt diesem Schema gefolgt sind oder folgen. Die mediale Begleitung dieser Machtkämpfe gleicht in vielen Fällen einem psychologischen Setting, das in den Hauptzügen totalitären Tribunalen entspricht. Ein über die Internetforen mobilisierter Mob, der zumeist den Diskussionen in ihrer Komplexität nicht folgen kann, reduziert diese in kleine, gierige Bisse. Eskortiert wird das Ganze von einer zunehmend entgleitenden Berichterstattung der großen Fernsehanstalten, wo die Akteure mit der Qualität und dem Ethos eines kritisch-unabhängigen Journalismus längst in die Minderheit geraten sind.

Von der Bundesanstalt für Arbeit bis zur Bundeswehr, von der Agenda 2010 bis zu Fußballvereinen ist das Muster der Abwendung von einem überfälligen Paradigmenwechsel zur Genese einer umgreifenden Renaissance des Revisionismus geworden. Das immer wieder laut vernehmliche kollektive Aufatmen gleicht dabei eher dem finalen Stoßseufzer der Kreatur, die vom Leben nichts mehr erwartet und an die Zukunft nicht mehr denken mag.