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Brexit: Last Exit to Reform

In einer Pro-Europa-Schrift, die im letzten Jahr erschien, verwies Frank-Walter Steinmeier explizit auf einen Vortrag, den Winston Churchill 1948 an einer Schweizer Universität gehalten hatte. Dort beschrieb der whiskeygurgelnde britische Premier, dass das nach dem II. Weltkrieg am Boden liegende Europa die große Chance habe, durch eine vernünftige Vernetzung und Kooperation sich eine gemeinsame Zukunft erbauen zu können. Zu der zentralen Aussage, die Steinmeier quasi als Einlassung für seine Kandidatur zum Bundespräsidenten genommen hat, ist zu sagen, dass Churchill in seiner Rede deutlich gemacht hat, dass Großbritannien sich nicht zum Kontinent und damit auch nicht zu diesem europäischen Projekt zugerechnet hat, wiewohl er es mit Sympathie zu betrachten gewillt war. Und zum Zweiten ist zu bemerken, dass alle Bekundungen für Europa aktuell nur dann angenommen werden, wenn sie vorbehaltslos abgegeben werden. Jede Kritik an der europäisch-unionistischen Performance oder Befindlichkeit gilt als Blasphemie. Und damit ist das Debakel beschrieben.

Mit der Überreichung der gestrigen Kündigungsschrift an den armen Herrn Tusk, der sichtlich ergriffen war, ist ein Kapitel der jüngsten europäischen Geschichte zum Abschluss gekommen. Die Zeiten des Aufbaus und der rasanten Expansion sind vorbei und mit dem Austritt einer wie immer definierten europäischen Großmacht aus dem Bündnis ist mehr als deutlich geworden, dass nur noch eine radikale Reform in der Lage wäre, die Union zu retten. Denn die britischen Vorbehalte sind zwar zum Teil aus der besonderen britischen Perspektive zu versstehen, aber in vielem durchaus kongruent mit der Sichtweise, die überall in Europa diskutiert wird.

Die sich durch ganz Europa ziehenden Kritiklinien drehen sich um die Frage der Autonomie der einzelnen Mitglieder, sie drehen sich um die Befugnisse der zentralistischen Bürokratie, sie drehen sich um die Modalitäten des Geldeinsammelns und der Geldvergabe, sie drehen sich um die Notwendigkeit eines Finanzausgleichs und sie drehen sich um das im Falle der Ukraine gezogene Junktim von EU- und NATO-Mitgliedschaft.

Das sind Themenfelder, aus denen die gegenwärtige politische Agenda der EU respektive der EU-Granden abgeleitet wurde, die aber aus keiner politischen Konsensbildung resultiert. Und exakt an dieser Stelle setzt die radikale Kritik an dem Konstrukt der EU an. Die formale Abkoppelung von demokratischen Entscheidungsprozessen und die sukzessive Einschränkung der nationalen Souveränität sind Erscheinungen, die nahezu unausgesprochen zustande kommen und die für das größte Misstrauen sorgen. Die rigorose Ablehnung einer Diskussion über die klandestin entstandenen Strukturen legt die Vermutung nahe, dass eine Agenda existiert, die aber nicht zur Disposition steht.

Nein, es ist sicherlich kein Zeichen für eine Verschwörungstheorie oder für den intellektuellen Kollaps eines ganzen Volkes, wenn Identitätsabweichungen und negative Symptome dazu geführt haben, dass eine wie immer zustande gekommene Mehrheit in Großbritannien sich für den Austritt aus der EU entschlossen hat. Vieles in diesem Prozess war ärgerlich, manches auch widerlich. Nur sollte deutlich geworden sein, dass in den Strukturen der unterschiedlichen anderen nationalen Bewusstseinsformen überall auch dunkle Energiefelder liegen, die ebenfalls aktiviert werden können, wenn alles so bleibt, wie es ist. Die große Chance, die Krisen bieten, ist die Möglichkeit, alles auf den Tisch zu legen, was der Revision oder der Reform bedarf. Dann ist die Zeit für neue Perspektiven. Wer jetzt lediglich fürs Durchhalten plädiert und es dabei belässt, bunte Ballons zu verteilen, verpasst die Chance der notwendigen Reform.

Ein aberwitziges Synonym

Es ist seltsam. Immer wieder kursieren dieselben Zeilen in den Nachrichten. Die internationalen Geldgeber sind mit ihrer Geduld am Ende. Es werde endlich Zeit, dass Griechenland mit ernst gemeinten Reformen beginne. Vor allem der Internationale Währungsfonds betont unablässig die Notwendigkeit einer Neustrukturierung der staatlichen Verwaltung. Der deutsche Finanzminister versendet analoge Botschaften. Die griechische Regierung hingegen wird dargestellt als ein Konsortium von Verweigerern, die genau das Gegenteil von Reformen im Sinn haben und auf Zeit spielen. So entsteht der Eindruck, dass das Land der Schuldenmacher in den falschen Händen liegt und es so nicht weitergehen kann. Der Grexit, d.h. das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro, wird nicht mehr als Schreckgespenst, sondern als Lösung angesehen.

Die Darstellung über die griechischen Verhältnisse, wie sie hier in der Öffentlichkeit existiert, steht in einem seltsamen Kontrast zu dem, was z.B. Vertreter der griechischen Regierung zum Besten geben, wenn man sich die Mühe macht, diese auch einmal zu fragen. Mittlerweile belegbar sind verschiedene Ersuchen seitens der griechischen Regierung an die Kreditgeber, sie bei strukturellen Reformen der Verwaltung mit Expertise und Know-how zu unterstützen. Denn tatsächlich ist sich auch Syriza bewusst, dass ineffektive Sektoren der Verwaltung ebenso existieren wie überflüssige. Das ist übrigens keine griechische Besonderheit, man sehe sich nur die jährlichen Berichte des Bundes der Steuerzahler hierzulande an.

Syriza geht allerdings davon aus, dass ein demokratisches Staatswesen, das den Namen verdient, zumindest gesellschaftlich notwendige Leistungen bereitstellt, von denen der freie Markt einen Großteil der Bevölkerung ausschließen würde. Die Leistungen, die laut der griechischen Regierung dazu gehören, sind die Versicherungssysteme bei Gesundheit und Alter, das Gesundheitssystem, Bildung und Infrastruktur. Die Regierung möchte auch diese Sektoren effektiveren und stellt den Rest der Verwaltung für weitere Reformierungen zur Disposition.

Nun sollte man meinen, dass ein derart differenzierter und vernünftiger Standpunkt von den Geldgebern honoriert werden müsse. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Antwort der Troika-Unterhändler ist auf die wiederholten Anfragen nach Unterstützung immer gleich geblieben: Reformen, wie ihr euch das vorstellt, können wir nicht. Wir kennen nur Kürzen! Damit ist die Strategie des freien Westens wieder einmal recht deutlich konturiert. Es geht darum, die essenziellen Funktionen eines demokratischen Staatswesens auszubeinen und zu filetieren, um sie danach zu privatisieren. Deregulierung, Liquidierung und Privatisierung sind die Maximen, nach denen das griechische Gemeinwesen momentan zerschlagen werden soll. Die Strategie folgt dabei einem Muster, mit dem vorher ein Großteil des alten Ostblocks saniert wurde.

Für die südeuropäischen Länder, denen momentan eine Sanierung á la Troika anempfohlen wird, ist es sinnvoll, ihren Blick auf Ökonomien wie die Polens zu werfen, um zu sehen, wie die eigene Zukunft aussehen könnte. Das Musterland des nach-kommunistischen Wirtschaftsliberalismus befindet sich längst in einer tiefen Stagnation. Es ist politisch erpressbar und nicht umsonst eines der aggressivsten Elemente hinsichtlich der NATO-Osterweiterung. Große Teile der Bevölkerung fristen ihr Dasein unter prekären Arbeitsverhältnissen und ohne gesellschaftliche Teilhabe, die Trennung zwischen Stadt und Land, Arm und Reich ist so brutal wie noch nie. Die Sanierungsprogramme der Troika folgen diesem Muster, eine Reform im Sinne einer positiven Gestaltung des Gemeinwesens ist von ihr nicht zu erwarten. Es wird höchste Zeit, die Täuschungsmanöver zu kompromittieren, in denen die Begriffe Reform und Zerschlagung synonym gebraucht werden.

Tacheles

Wenn Angela Merkel ein politischer Konkurrent aus den eigenen Reihen zu nahe kommt, so hat sie aus den Regieanweisungen zur Machterhaltung sehr früh von ihrem Ziehvater Helmut Kohl gelernt, dann macht sie mit ihm gemeinsam einige Bewegungsfiguren, bis dieser dann plötzlich, zu seinem eigenen Erstaunen, weit im Abseits steht und noch lange rätseln wird, wann denn die Kanzlerin von seiner Seite gewichen ist. Das hat sie mit vielen bereits gemacht und in der Union wird die Sorge immer größer, dass die Ära nach Merkel auf den Oppositionsbänken stattfinden wird, weil das regierungsfähige Personal von Mutti komplett durchs Sieb gedrückt worden ist.

Einer, und zwar kein Unbedeutender, weil er schließlich MP in einem einstigen Stronghold der CDU war, nämlich in Baden-Württemberg, fand sich als EU-Kommissar in Brüssel wieder. Bis auf eine Rede in schlechtem Englisch, die alle Vorurteile gegenüber Schwaben bestätigte und zu nichts beitrug als zum seichten Niveau der Kritik, das sich überall durchgesetzt hat, hatten wir lange nichts mehr von ihm gehört. Doch Günther Oettinger wäre nicht Günther Oettinger, wenn er nicht irgendwann auftauchte, um Dinge anzusprechen, bei denen die bekannte Höflichkeit der Sänger schweigt.

Und, damit ihm niemand eine böse Absicht unterstellen konnte, suchte er sich ein popeliges Meeting der belgischen Handelskammer aus, um mit kräftiger Hand auf den europäischen Sack zu schlagen. Lange genug hat er den Betrieb der EU-Politik und der EU-Bürokratie studiert, um zu wissen, wovon er redet. Und natürlich macht er das als der Mann mit seiner Weltanschauung und Überzeugung. Aber was er sagte, hatte es in sich und Bundesregierung wie EU täten gut daran, sich nicht auf eine lapidare Schmähung des Kritikers zu einigen.

Oettinger sprach zum Beispiel über den Zustand einzelnr Mitgliedsstaaten und unterließ dabei die Freundlichkeiten. Neben Ländern in Südosteuropa, in denen neben der wirtschaftlichen Lage auch noch das Demokratieverständnis allen Anlass zur Sorge gebe, sprach er die eu-defätistische Position Großbritanniens zum einen und die abenteuerliche Abkehr von der Wertschöpfung und die alleinige Konzentration auf die Börse zum anderen an. Im Falle Frankreichs kritisierte er eine zu hohe Staatsquote, zu viele öffentlich Bedienstete, zu hohe Rentenleistungen und eine mangelnde Effektivität der Verwaltung. Ganz nebenbei attestierte er dem sonst doch so entschlossen und dynamisch auftretenden Francois Hollande, dass er keinen Plan habe.

Ein ganz besonderer Fall für Günther Oettinger ist natürlich Deutschland. Der Bundesrepublik bescheinigte er, sie stünde im Zenit ihrer Leistungskraft, was sie der Agenda 2010 Gerhard Schöders zu verdanken habe, was weder die CDU und die heutige SPD goutieren werden. Besser, so Oettinger, werde es aber auch nicht, denn die Republik befasse sich nicht mit Themen, die der Optimierung, Reform und Erneuerung dienten, sondern man tummle sich unter Überschriften wie Fracking und Frauenquote, die von den wahren Problemen ablenkten.

Zu jedem einzelnen Punkt kann man sicherlich eine dezidiert andere Meinung haben und die mit guten Argumenten untermauern. Dass allerdings ausgerechnet im so weit vom wirklichen Leben liegenden Brüssel jemand aus der Kaste des politischen Personals die Courage aufbringt, die offizielle Rhetorik in den Wind zu schlagen und einmal Tacheles zu reden, sollte unbedingt honoriert werden. Weder im Berliner Parlament noch aus den Reihen des Brüsseler Staffs ist das sich mehr und mehr etablierende Unwesen der EU so scharf kritisiert worden. Da muss man redlich bleiben und den Mutigen loben und sich die Argumente noch einmal genau ansehen!